The Project Gutenberg EBook of Andrea Delfin, by Paul Heyse

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Title: Andrea Delfin

Author: Paul Heyse

Release Date: October, 2005  [EBook #9059]
[This file was first posted on September 1, 2003]

Edition: 10

Language: German

Character set encoding: US-ASCII

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, ANDREA DELFIN ***




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Andrea Delfin

Eine venezianische Novelle

Paul Heyse






In jener Gasse Venedigs, die den freundlichen Namen "Bella Cortesia"
traegt, stand um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ein einfaches,
einstoeckiges Buergerhaus, ueber dessen niedrigem Portal, von zwei
gewundenen hoelzernen Saeulen und barockem Gesims eingerahmt, ein
Madonnenbild in der Nische thronte und ein ewiges Laempchen bescheiden
hinter rotem Glas hervorschimmerte.  Trat man in den unteren Flur, so
stand man am Fusse einer breiten, steilen Treppe, die ohne Windung zu
den oberen Zimmern hinauffuehrte.  Auch hier brannte Tag und Nacht eine
Lampe, die an blanken Kettchen von der Decke herabhing, da in das
Innere nur Tageslicht eindrang, wenn einmal die Haustuer geoeffnet
wurde. Aber trotz dieser ewigen Daemmerung war die Treppe der
Lieblingsaufenthalt von Frau Giovanna Danieli, der Besitzerin des
Hauses, die seit dem Tode ihres Mannes mit ihrer einzigen Tochter
Marietta das ererbte Haeuschen bewohnte und einige ueberfluessige Zimmer
an ruhige Leute vermietete.  Sie behauptete, die Traenen, die sie um
ihren lieben Mann geweint, haetten ihre Augen zu sehr geschwaecht, um
das Sonnenlicht noch zu vertragen.  Die Nachbarn aber sagten ihr nach,
dass sie nur darum von Morgen bis Abend auf dem oberen Treppenabsatz
ihr Wesen treibe, um mit jedem, der aus- und einginge, anzubinden und
ihn nicht vorueberzulassen, eher er ihrer Neugier und Gespraechigkeit
den Zoll entrichtet habe.  Um die Zeit, wo wir sie kennen lernen,
konnte dieser Grund sie schwerlich bewegen, den harten Sitz auf der
Treppenstufe einem bequemen Sessel vorzuziehen.  Es war im August des
Jahres 1762. Schon seit einem halben Jahr standen die Zimmer, die sie
vermietete, leer, und mit ihren Nachbarn verkehrte sie wenig.  Dazu
ging es schon auf die Nacht, und ein Besuch um diese Zeit war ganz
ungewoehnlich.  Dennoch sass die kleine Frau beharrlich auf ihrem Posten
und sah nachdenklich in den leeren Flur hinab.  Sie hatte ihr Kind zu
Bett geschickt und ein paar Kuerbisse neben sich gelegt, um sie noch
vor Schlafengehen auszukernen.  Aber allerlei Gedanken und
Betrachtungen waren ihr dazwischen gekommen.  Ihre Haende ruhten im
Schoss, ihr Kopf lehnte am Gelaender, es war nicht das erste Mal, dass
sie in dieser Stellung eingeschlafen war.

Sie war auch heute nahe daran, als drei langsame, aber nachdrueckliche
Schlaege an die Haustuer sie ploetzlich aufschreckten.  Misericordia!
sagte die Frau, indem sie aufstand, aber unbewegliche stehen blieb,
was ist das?  Hab' ich getraeumt?  Kann er es wirklich sein?

Sie horchte.  Die Schlaege mit dem Klopfer wiederholten sich.  Nein,
sagte sie, Orso ist es nicht.  Das klang anders.  Auch die Sbirren
sind es nicht.  Lass sehen, was der Himmel schickt.--Damit stieg sie
schwerfaellig hinunter und fragte durch die Tuer, wer Einlass begehre.

Eine Stimme antwortete: es stehe ein Fremder draussen, der hier eine
Wohnung suche.  Das Haus sei ihm gut empfohlen; er hoffe, lange zu
bleiben und die Wirtin wohl zufrieden zu stellen.  Das alles wurde
hoeflich und in gutem Venezianisch vorgetragen, so dass Frau Giovanna,
trotz der spaeten Zeit, sich nicht bedachte, die Tuer zu oeffnen.  Der
Anblick ihres Gastes rechtfertigte ihr Vertrauen.  Er trug, soviel sie
in der Daemmerung sehen konnte, die anstaendige schwarze Kleidung des
niederen Buergerstandes, einen ledernen Mantelsack unter dem Arm, den
Hut bescheiden in der Hand.  Nur sein Gesicht befremdete die Frau.  Es
war nicht jung, nicht alt, der Bart noch dunkelbraun, die Stirn
faltenlos, die Augen feurig, dagegen der Ausdruck des Mundes und die
Art zu sprechen muede und ueberlebt, und das kurzgeschorene Haar in
seltsamem Gegensatz zu den noch jugendlichen Zuegen voellig ergraut.

Gute Frau, sagte er, ich habe Euch schon im Schlafe gestoert, und sogar
vielleicht vergebens.  Denn, um es gleich zu sagen: wenn Ihr kein
Zimmer habt, das auf einen Kanal hinausgeht, bin ich nicht Euer Mieter.
Ich komme von Brescia, mein Arzt hat mir die feuchte Luft Venedigs
empfohlen fuer meine schwache Brust; ich soll ueberm Wasser wohnen.

Nun Gott sei Dank! sagte die Witwe, so kommt doch einmal einer, der
unserem Kanal Ehre antut.  Ich hatte einen Spanier vorigen Sommer, der
auszog, weil er sagte, das Wasser habe einen Geruch, als waeren Ratten
und Melonen darin gekocht worden!  Und Euch ist es empfohlen worden?
Wir sagen wohl hier in Venedig:

Wasser vom Kanal.  Kuriert radikal.

Aber es hat einen eigenen Sinn, Herr, einen boesen Sinn, wenn man
bedenkt, wie manches Mal auf Befehl der Oberen eine Gondel mit Dreien
auf die Lagunen hinausfuhr und mit Zweien wiederkam.  Davon nichts
mehr, Herr--Gott behuet' uns alle!  Aber habt Ihr Euren Pass in Ordnung?
Ich koennt' Euch sonst nicht aufnehmen.

Ich hab' ihn schon drei Mal praesentiert, gute Frau, in Mestre, bei der
Wachtgondel draussen und am Traghetto.  Mein Name ist Andrea Delfin,
mein Stand rechtskundiger Schreiber bei den Notaren, als welcher ich
in Brescia fungiert habe.  Ich bin ein ruhiger Mensch und habe nie mit
der Polizei gern zu schaffen gehabt.

Um so besser, sagte die Frau, indem sie jetzt ihrem Gaste voran die
Treppe wieder hinaufstieg. Besser bewahrt als beklagt, ein Aug' auf
die Katze, das andere auf die Pfanne, und es ist nuetzlicher, Furcht zu
haben als Schaden.  O, ueber die Zeiten, in denen wir leben, Herr
Andrea!  Man soll nicht drueber nachdenken.  Denken verkuerzt das Leben,
aber Kummer schliesst das Herz auf.  Da seht, und sie oeffnete ein
grosses Zimmer, ist es nicht huebsch hier, nicht wohnlich?  Dort das
Bett, mit meinen eigenen Haenden hab' ich's genaeht, als ich jung war,
aber am Morgen kennt man nicht den Tag.  Und da ist das Fenster nach
dem Kanal, der nicht breit ist, wie Ihr seht, aber desto tiefer, und
das andere Fenster dort nach der kleinen Gasse, das Ihr zuhalten muesst,
denn die Fledermaeuse werden immer dreister.  Seht da ueberm Kanal, fast
mit der Hand abzureichen, der Palast der Graefin Amidei, die blond ist
wie das Gold und durch ebensoviel Haende geht.  Aber hier steh' ich und
schwatze, und Ihr habt noch weder Licht noch Wasser und werdet hungrig
sein.

Der Fremde hatte gleich beim Eintreten das Zimmer mit raschem Blick
gemustert, war von Fenster zu Fenster gegangen und warf jetzt seinen
Mantelsack auf einen Sessel.  Es ist alles in der besten Ordnung,
sagte er.  Ueber den Preis werden wir uns wohl einigen.  Bringt mir
nur einen Bissen und, wenn Ihr ihn habt, einen Tropfen Wein.  Dann
will ich schlafen.

Es war etwas seltsam Gebieterisches in seiner Gebaerde, so milde der
Ton seiner Worte klang.  Eilig gehorchte die Frau und liess ihn auf
kurze Zeit allein.  Nun trat er sofort wieder ans Fenster, bog sich
hinaus und sah den sehr engen Kanal hinab, der durch kein Zittern
seiner schwarzen Flut verriet, dass er teilhabe an dem Leben des grossen
Meeres, dem Wellenschlag der alten Adria.  Der Palast gegenueber stieg
in schwerer Masse vor ihm auf, alle Fenster waren dunkel, da die
Vorderseite nicht dem Kanal zugekehrt war; nur eine schmale Tuer
oeffnete sich unten, dicht ueber dem Wasserspiegel, und eine schwarze
Gondel lag angekettet vor der Schwelle.

Das alles schien den Wuenschen des neuen Ankoemmlings durchaus zu
entsprechen, nicht minder auch, dass man ihm durch das andere Fenster,
das nach der Sackgasse ging, nicht ins Zimmer sehen konnte.  Denn
drueben lief eine fensterlose Wand ohne andere Unterbrechung als einige
Vorspruenge, Risse und Kellerloecher hin, und nur den Katzen, Mardern
und Nachtvoegeln konnte dieser duestere Winkel angenehm und wohnlich
erscheinen.

Ein Lichtstrahl aus dem Flur drang ins Gemach, die Tuer oeffnete sich,
und mit der Kerze in der Hand trat die kleine Witwe wieder ein, hinter
ihr die Tochter, die in der Eile noch einmal hatte aufstehen muessen,
um beim Empfang des Gastes zu helfen.  Die Gestalt des Maedchens war
fast noch kleiner als die der Mutter, erschien aber doch durch die
hoechste Zierlichkeit und kaum gereifte Schlankheit aller Formen groesser
und wie auf den Fussspitzen schwebend, waehrend man auch im Gesicht
dieselbe Aehnlichkeit und denselben Unterschied, der auf Rechnung der
Jahre kam, auf den ersten Blick erkannte.  Nur der Ausdruck in beiden
Gesichtern schien niemals einander aehnlich werden zu koennen.  Es war
zwischen den dichten Brauen der Frau Giovanna ein Zug von Spannung und
kummervollem Harren, der auch mit den Erfahrungen des Alters auf
Mariettas klarer Stirn nie dauernd eine Staette finden konnte.  Diese
Augen mussten immer lachen, dieser Mund immer ein wenig geoeffnet sein,
um jeden Scherz unverzueglich hinauszulassen.  Es war unendlich drollig
zu sehen, wie jetzt in diesem Gesichtchen Verschlagenheit,
Ueberraschung, Neugier und Mutwille miteinander kaempften.  Sie bog beim
Eintreten den Kopf, dessen lose Flechten mit einem schmalen Tuch
umwunden waren, seitwaerts, um den neuen Hausgenossen zu sehen.  Auch
seine ernste Miene und sein graues Haar stimmten ihre Munterkeit nicht
herab.  Mutter, fluesterte sie, indem sie einen grossen Teller mit
Schinken, Brot und frischen Feigen und eine halbvolle Flasche Wein auf
den Tisch stellte, er hat ein kurioses Gesicht, wie ein neues Haus im
Winter, wenn der Schnee aufs Dach gefallen ist.

Schweig, du schlimme Hexe! sagte die Mutter rasch.  Weisse Haare sind
falsche Zeugen.  Er ist krank, musst du wissen, und du solltest Respekt
haben, denn Krankheiten kommen zu Pferde und gehen zu Fuss, und Gott
behuete dich und mich, denn die Kranken essen wenig, aber die Krankheit
frisst alles.  Hole nur ein wenig Wasser, soviel wir noch haben.
Morgen muessen wir frueh auf und neues kaufen.  Sieh, er sitzt da, als
ob er schliefe.  Er ist muede von der Reise, und du bist muede vom
Stillsitzen.  So ist die Welt verschieden.

Waehrend dieser halblauten Reden hatte der Fremde am Fenster gesessen
und den Kopf in die Hand gestuetzt.  Auch als er jetzt aufsah, schien
er die Gegenwart des zierlichen Maedchens, das ihm eine Verbeugung
machte, kaum zu bemerken.

Kommt und esst etwas, Herr Andrea, sagte die Witwe.  Wer nicht zu Nacht
isst, hungert im Traum.  Seht, die Feigen sind frisch, und der Schinken
zart, und dies ist Zyperwein, wie ihn der Doge nicht besser trinkt.
Sein Kellermeister hat ihn uns selbst verkauft, eine alte
Bekanntschaft noch von meinem Mann her.  Ihr seid gereist, Herr.  Ist
er Euch nicht einmal begegnet, mein Orso, Orso Danieli?

Gute Frau, sagte der Fremde, indem er einige Tropfen Wein ins Glas goss
und eine der Feigen aufbrach, ich bin nie ueber Brescia hinausgekommen
und kenne keinen dieses Namens.

Marietta verliess das Zimmer, und man hoerte sie, waehrend sie die Treppe
hinunterflog, ein Liedchen mit heller Stimme vor sich hin singen.

Hoert Ihr das Kind? fragte Frau Giovanna.  Man hielte sie nicht fuer
meine Tochter, obwohl auch eine schwarze Henne ein weisses Ei legt.
Immer singen und springen, als waeren wir hier nicht in Venedig, wo es
gut ist, dass die Fische stumm sind, weil sie sonst reden wuerden, was
einem das Haar straeubte.  Aber so war ihr Vater auch, Orso Danieli,
der erste Arbeiter auf Murano, wo sie die bunten Glaeser machen, wie
nirgend auf der Welt.  Ein froehlich Herz macht rote Wangen, das war
sein Spruch.  Und darum sagte er eines Tages zu mir, Giovannina, sagte
er, ich halt' es hier nicht aus, die Luft schnuert mir die Kehle zu,
gestern erst ist wieder einer erdrosselt und mit dem Fuss an den Galgen
gehenkt worden, weil er freie Reden gefuehrt hat gegen die Inquisitoren
und den Rat der Zehn.  Man weiss, wo man geboren wird, aber nicht, wo
man stirbt, und mancher denkt auf dem Pferde zu sitzen und sitzt auf
der Erde.  Also, Giovannina, sagte er, ich will nach Frankreich, Kunst
bringt Gunst, und der Heller laeuft dem Batzen nach.  Meine Sache
verstehe ich, und wenn ich's draussen zu was gebracht habe, kommst du
nach mit unserem Kind.--Das war damals acht Jahre alt, Herr Andrea.
Es lachte, als es der Vater zuletzt kuesste; da lachte er auch.  Ich
aber weinte, da musste er wohl mitweinen, obwohl er ganz lustig wegfuhr
in der Gondel, ich hoert' ihn noch pfeifen, als er schon um die Ecke
war.  So ging es ein Jahr.  Und was geschah?  Die Signoria liess nach
ihm fragen; es duerfe keiner von Murano sein Gewerk ins Ausland tragen,
damit sie es dort ihm nicht absaehen; ich sollt' ihm schreiben, dass er
wiederkaeme, bei Todesstrafe.  Ueber den Brief lachte er; aber den
Herren vom Tribunal war's nicht spasshaft.  Eines Morgens, da wir noch
zu Bett waren, wurde ich abgeholt, das Kind mit mir, und
hinaufgeschleppt unter die Bleidaecher, und musste ihm wieder schreiben,
wo ich waere, ich und unser Kind, und dass ich da bleiben wuerde, bis er
selber mich abforderte in Venedig.  Nicht lange, so hatte ich seine
Antwort, das Lachen sei ihm vergangen, er wandere dem Brief auf den
Fersen nach.  Nun, ich hoffte taeglich, dass er es wahrmachen werde.
Aber Wochen und Monde vergingen, und mir ward immer weher ums Herz und
kraenker im Haupt, denn da droben ist die Hoelle, Herr Andrea, nur dass
ich das Kind hatte, das nichts von dem Jammer begriff, ausser dass es
schlecht ass und ueber Tag heiss hatte; aber dennoch sang es, um mich
lustig zu machen, dass mich's vollends angriff, die Traenen zu verhalten.
Erst im dritten Monat wurden wir herausgeholt, es hiess, der
Glasblaeser Orso Danieli sei in Mailand am Fieber gestorben, und wir
koennten nach Hause gehen.  Ich habe es auch von anderen gehoert--aber
wer das glaubt, kennt die Signoria nicht.  Gestorben?  Stirbt man auch,
wenn man Frau und Kind unter den Bleidaechern sitzen hat und sie
herausholen soll?

Und was meint Ihr, dass aus Eurem Mann geworden sei? fragte der Fremde.

Sie sah mit einem Blick ihm ins Gesicht, der ihn daran gemahnte, dass
die arme Frau lange Wochen unter den Bleidaechern gelebt hatte.  Es ist
nicht richtig, sagte sie.  Mancher lebt und kommt doch nicht wieder,
und mancher ist tot und kommt doch wieder.  Aber davon wollen wir
schweigen.  Ja, wenn ich es Euch sagte, wer steht mir dafuer, dass Ihr
nicht hingeht und es vor dem Tribunal ausplaudert?  Ihr seht aus wie
ein Galantuomo; aber wer ist noch rechtschaffen heutzutage?  Von
tausend einer, von hundert keiner.  Nichts fuer ungut, Herr Andrea,
aber Ihr wisst wohl, wie es in Venedig heisst:

Mit Lug und Listen kommt man aus,
Mit List und Luegen haelt man haus.


Es entstand eine Pause.  Der Fremde hatte laengst den Teller
weggeschoben und der Witwe gespannt zugehoert.

Ich verdenke es Euch nicht, sagte er, dass Ihr mir Eure Geheimnisse
nicht anvertrauen wollt.  Sie gehen mich auch nichts an, und zu helfen
wuesst' ich Euch ohnedies nicht.  Aber wie kommt es, Frau, dass Ihr
dieses Tribunal, unter dem Ihr so viel gelitten, dennoch Euch gefallen
lasset, Ihr und alles Volk in Venedig?  Denn ich weiss zwar wenig, wie
es hier aussieht--ich habe mich nie in politische Fragen
vertieft--aber so viel habe ich doch gehoert, dass erst im vorigen Jahr
hier ein Tumult war, um das heimliche Tribunal abzuschaffen, dass einer
vom Adel selbst dagegen auftrat und der Grosse Rat eine Kommission
waehlte, die Sache zu bedenken, und alles in Bewegung geriet fuer und
wider.  Ich hoerte davon sogar in meiner Schreibstube zu Brescia.  Und
als endlich alles beim alten blieb und die Macht des heimlichen
Gerichts fester gegruendet stand als je, warum zuendete da das Volk
Freudenfeuer an auf den Plaetzen und verhoehnte die vom Adel, die gegen
das Tribunal gestimmt hatten und nun seine Rache fuerchten mussten?
Warum war niemand, der es hinderte, dass die Inquisitoren ihren kuehnen
Feind nach Verona verbannten?  Und wer weiss, ob sie ihn dort am Leben
lassen, oder ob die Dolche schon geschliffen sind, die ihn fuer immer
stumm machen sollen?  Ich--wie gesagt--weiss nur wenig hiervon; ich
kenne auch jenen Mann nicht, und es ist mir alles sehr gleichgueltig,
was hier geschieht, denn ich bin krank und werde es in dieser bunten
Welt ohnehin nicht mehr lange treiben.  Aber es wundert mich doch,
dieses wankelmuetige Volk zu sehen, das heute diese drei Maenner seine
Tyrannen nennt und morgen frohlockt, wenn die untergehen, welche der
Tyrannei ein Ende machen wollten.

Wie Ihr da redet, Herr! sagte die Witwe und schuettelte den Kopf.  Ihr
habt ihn nie gesehen, den Herrn Avogadore Angelo Querini, den sie
verbannt haben, weil er der heimlichen Justiz den Krieg erklaerte?  Nun
wohl, Herr, aber ich habe ihn gesehen und die anderen armen Leute, und
sie sagen alle, er sei ein rechtschaffener Herr und ein grosser
Gelehrter, der Tag und Nacht die alten Geschichten von Venedig
studiert hat und die Gesetze kennt, wie der Fuchs den Taubenschlag.
Aber wer ihn ueber die Strasse gehen oder im Broglio mit seinen Freunden
stehen sah, so an die Saeule gelehnt und die Augen halb zugedrueckt, der
wusste, dass er ein Nobile war von der Feder am Hut bis zu den
Schuhschnallen, und was er gegen das Tribunal redete und handelte, war
nicht fuers Volk, sondern fuer die grossen Herren.  Den Schafen aber ist
es gleich, Herr Delfin, ob sie geschlachtet oder vom Wolf gefressen
werden, und Rauft sich der Habicht mit dem Weih, Ist das Feld fuer die
Huehner frei.

Seht, Lieber, darum war die Schadenfreude gross, als das Tribunal in
allen Rechten bestaetigt wurde und nach wie vor niemandem Rechenschaft
schulden sollte als am Juengsten Tage dem Herrgott und alle Tage dem
Gewissen.  Im Kanal Orfano, von Hunderten, die dort ihr letztes Ave
gebetet haben, liegen zehn von den kleinen Leuten neben neunzig von
den grossen Herren.  Aber setzt den Fall, es wuerden adlige Verbrecher
und buergerliche vom Grossen Rat oeffentlich gerichtet und
hingerichtet--Misericordia! wir haetten achthundert Henker anstatt drei,
und der grosse Dieb haengte den kleinen auf.

Er schien etwas erwidern zu wollen, aber mit einem kurzen Auflachen,
das die Wirtin fuer Zustimmung nahm, hatte es sein Bewenden.  Indem
trat Marietta wieder herein, ein Gefaess mit Wasser tragend und ein
Raeucherpfaennchen, auf dem ein scharfriechendes Kraut glimmte und ihr
seinen Dampf ins Gesicht trieb, dass sie mit Husten, Schelten und
Augenreiben die drolligsten Gebaerden machte.  Sie trug das Raeucherwerk
mit kleinen Schritten dicht an den vier Waenden herum, die mit einer
Unzahl Fliegen und Muecken bedeckt waren.

Marschiert da weg, ihr Gesindel, sagte sie, ihr Blutsauger, schlimmer
als Advokaten und Doktoren!  Haettet ihr auch Lust, Feigen zu Nacht zu
essen und Zyper zu naschen?  Da koenntet ihr wohl lachen und hernach
zum Dank dem Herrn da, wenn er schlaeft, das Gesicht zerstechen, ihr
Meuchelmoerder!  Wartet, ich will euch was eingeben, das euch ohne
Abendessen in Schlaf bringen soll.

Musst du immer schwatzen, du gottlose Kreatur? sagte die Mutter, die
allen Bewegungen ihres Lieblings mit strahlenden Blicken folgte.
Weisst du nicht, dass ein Fass, das klingt, leer ist, und wer viel
spricht, wenig sagt?--Mutter, sagte das Maedchen lachend, ich muss den
Muecken ein Schlaflied singen, und seht, wie es hilft! da fallen sie
schon von der Wand.  Gute Nacht, ihr Tagediebe, ihr schlechten
Gesellen, die ihr keine Miete bezahlt und doch in alle Toepfe guckt.
Wir sprechen uns morgen wieder, wenn ihr heute nicht genug bekommen
habt.

Sie schwenkte das erloeschende Kraut noch einmal wie beschwoerend ueberm
Haupte und schuettete die Asche in den Kanal, dann verbeugte sie sich
rasch gegen den Fremden und lief wie der Wind hinaus.

Ist es nicht eine Hexe, ein haessliches, unerzogenes Geschoepf? sagte
Frau Giovanna, indem sie aufstand und sich ebenfalls zum Gehen
anschickte.  Und doch gefaellt jeder Aeffin ihr Aeffchen.  Und uebrigens,
so klein sie ist und nichtsnutzig, so anstellig ist sie auch, und es
heisst auch von ihr:

Bis die Grosse sich nur bueckt,
Hat die Kleine schon das Kraut gepflueckt.


Wenn ich das Kind nicht haette, Herr Andrea!  Aber Ihr wollt schlafen,
und ich stehe noch hier und brodle wie die Suppe ueberm Feuer.  Schlaft
wohl und willkommen in Venedig!

Er erwiderte ihren Gruss trocken und schien es nicht zu bemerken, dass
sie offenbar noch ein lobendes Wort ueber ihre Tochter von ihm
erwartete.  Als er endlich allein war, sass er noch eine Weile am Tisch,
und sein Gesicht wurde immer duesterer und schmerzlicher.  Das Licht
brannte mit langem Docht, die Fliegen, die Mariettas Hexenkuensten
entgangen waren, belagerten in schwarzen Klumpen die ueberreifen Feigen,
draussen in dem Sackgaesschen flogen die Fledermaeuse ans Fenster und
stiessen gegen das Gitter--der einsame Fremde schien fuer alles um ihn
her erstorben, und nur die Augen lebten an ihm.

Erst als es elf schlug vom Turm einer nahen Kirche, richtete er sich
mechanisch auf und sah um sich.  An der Decke seines niedrigen Zimmers
zog in grauen Streifen der scharfe Dunst des Raeucherkrautes hin und
der Dampf der Kerze gesellte sich zu der Wolke droben.  Andrea oeffnete
das Fenster nach dem Kanal, um die Luft zu reinigen.  Da sah er
gegenueber Licht in einem durch einen weissen Vorhang nur halb
geschlossenen Fenster und konnte durch die Luecke deutlich ein Maedchen
beobachten, welches am Tisch vor einer Schuessel sass und die Reste
einer grossen Pastete hastig verzehrte, mit den Fingern die Bissen zum
Munde fuehrend und dazu dann und wann aus einem Kristallflaeschchen
trinkend.  Das Gesicht hatte einen leichtsinnigen, aber eben nicht
herausfordernden Ausdruck, nicht mehr in erster Jugend.  In der
nachlaessigen Kleidung und dem halbaufgeloesten Haar lag etwas
Studiertes und Bewusstes, was doch nicht ungefaellig war.  Sie musste
laengst bemerkt haben, dass das Zimmer gegenueber einen neuen Bewohner
aufgenommen hatte; aber obwohl sie denselben jetzt am Fenster sah,
fuhr sie ruhig im Schmausen fort, und nur wenn sie trank, schwenkte
sie das Flaeschchen erst vor sich her, als wolle sie einen Mittrinker
begruessen.  Darauf stellte sie die leere Schuessel beiseite, rueckte den
Tisch mit der Lampe so gegen die Wand, dass alles Licht auf einen
breiten Spiegel im Hintergrunde fiel, und begann nun einen Haufen
Maskenanzuege, der auf einem Armsessel bunt uebereinander lag, der Reihe
nach vor dem Spiegel anzuprobieren, so dass der Fremde gegenueber, dem
sie den Ruecken dabei zudrehte, desto deutlicher ihr Abbild sehen musste.
Sie schien sich nicht wenig in ihren Verkleidungen zu gefallen.
Wenigstens nickte sie ihrem Bilde aufs freundlichste zu, lachte sich
an, dass Zaehne und Lippen schimmerten, runzelte die Brauen, um eine
tragische oder schmachtende Miene zu machen, und sah dabei heimlich
seitwaerts nach dem Beobachter drueben, den sie ebenfalls durch den
Spiegel im Auge behielt.  Als die dunkle Gestalt unbeweglich blieb und
die erhofften Zeichen des Beifalls auf sich warten liessen, wurde sie
ungehalten und bereitete einen Hauptschlag vor.  Sie band sich einen
grossen roten Turban um die Schlaefen, aus dem an blitzender Agraffe
eine Reiherfeder hervorsah.  Das Rot stand allerdings nicht uebel zu
ihrer gelben Gesichtsfarbe, und sie machte sich selbst eine tiefe
Verbeugung der Anerkennung.  Als es aber drueben auch jetzt noch still
blieb, riss ihr die Geduld, und sie trat, den Turban noch auf dem Kopf,
hastig an das Fenster, dessen Vorhang sie ganz zurueckschob.

Guten Tag, Monsu, sagte sie freundlich.  Ihr seid mein Nachbar
geworden, wie ich sehe.  Hoffentlich spielt Ihr nicht die Floete wie
Euer Vorgaenger, der mich die halbe Nacht nicht schlafen liess.

Schoene Nachbarin, sagte der Fremde, ich werde Euch mit keiner Art von
Musik laestig fallen.  Ich bin ein kranker Mensch, dem es lieb ist,
wenn man ihm selbst seinen Schlaf nicht stoert.

So!--erwiderte das Maedchen mit gedehntem Ton.  Krank seid Ihr?  Aber
seid Ihr auch reich?

Nein!  Warum fragt Ihr?

Weil es ja schrecklich ist, krank und arm zugleich zu sein.  Wer seid
Ihr denn eigentlich?

Andrea Delfin ist mein Name.  Ich bin Gerichtsschreiber gewesen in
Brescia und suche hier einen stilleren Dienst bei einem Notar.

Die Antwort schien ihre Erwartungen von der neuen Bekanntschaft
vollends herabzustimmen.  Sie spielte nachdenklich mit einer goldenen
Kette, die sie um den Hals trug.

Und wer seid Ihr, schoene Nachbarin? fragte Andrea mit einem zaertlichen
Ton, der dem eisernen Ausdruck seines Gesichtes voellig widersprach.
Euer holdes Bild so nahe zu haben, wird mir ein Trost sein in meinen
Leiden.

Sie fuehlte sich offenbar befriedigt, dass er in den Ton einlenkte, den
sie zu erwarten berechtigt war.

Fuer Euch, sagte sie, bin ich die Prinzessin Smeraldina, die Euch
erlaubt, von fern nach ihrer Gunst zu schmachten.  Wenn Ihr mich
diesen Turban aufsetzen seht, so sei es Euch ein Zeichen, dass ich
geneigt bin, mit Euch zu plaudern.  Denn ich langweile mich mehr, als
bei meiner Jugend und meinen Reizen zu ertragen ist.  Ihr muesst wissen,
fuhr sie fort, indem sie ploetzlich aus der Rolle fiel, dass meine
Herrschaft, die Graefin, durchaus nicht erlaubt, dass ich auch nur die
kleinste Liebschaft habe, obwohl sie selbst ihre Liebhaber oefter
wechselt als ihre Hemden.  Sie sagt, dass sie ihre Vertraute und
Kammerjungfer stets aus dem Dienst gejagt habe, sobald sie zweien
Herren habe dienen wollen, ihr und dem kleinen Gott mit den Fluegeln.
Unter diesem Vorurteil muss ich nun seufzen, und faend' ich nicht sonst
hier meine Rechnung, und wohnte nicht zuweilen drueben in Eurem Zimmer
ein artiger Fremder, der sich ein wenig in mich verliebt...

Wer ist jetzt gerade der Liebhaber deiner Herrin? unterbrach sie
Andrea trocken.  Empfaengt sie den hohen Adel Venedigs?  Gehen die
fremden Gesandten bei ihr aus und ein?

Sie kommen meist in der Maske, erwiderte Smeraldina.  Aber das weiss
ich wohl, dass der junge Gritti ihr der Liebste ist, mehr als jemals
ein anderer, solange ich in ihrem Dienste bin; ja mehr als der
oesterreichische Gesandte, der ihr so den Hof macht, dass es zum Lachen
ist.  Kennt Ihr meine Graefin auch?  Sie ist schoen.

Ich bin fremd hier, Kind.  Ich kenne sie nicht.

Wisst, sagte das Maedchen mit einem schlauen Gesicht, sie schminkt sich
stark, obwohl sie noch nicht dreissig ist.  Wenn Ihr sie einmal sehen
wollt, nichts leichter.  Man legt ein Brett von Eurem Fenster in
meines.  Ihr steigt herueber, und ich fuehre Euch an einen Ort, wo Ihr
sie ganz verstohlen betrachten koennt.  Was tut man nicht einem Nachbar
zuliebe!--Aber jetzt gute Nacht.  Ich werde gerufen.

Gute Nacht, Smeraldina!

Sie schloss das Fenster.  Arm--und krank, sagte sie fuer sich, indem sie
den Vorhang dicht zusammenzog.  Je nun, fuer die Langeweile immer noch
gut genug.

Auch er hatte das Fenster geschlossen und durchmass nun sein Zimmer mit
langsamen Schritten.  Es ist gut, sagte er, es kommt mir gelegen.  Im
schlimmsten Falle kann ich auch davon Vorteil ziehen.

Seine Miene zeigte, dass er an alles eher dachte als an Liebesabenteuer.

Nun packte er seinen Mantelsack aus, der nur wenig Waesche und ein paar
Gebetbuecher enthielt, und legte alles in einen Schrank an der Wand.
Eines der Buecher fiel zu Boden, und die Steinplatte gab einen hohlen
Ton.  Sofort loeschte er das Licht, verriegelte die Tuer und fing an, in
der Daemmerung, die durch den fernen Schein von Smeraldinas Laempchen
entstand, den Boden genauer zu untersuchen.  Nach einiger Arbeit
gelang es ihm, die Steinplatte, die sauber, aber ohne Moertel eingefuegt
war, herauszuheben, und er entdeckte darunter ein ziemlich geraeumiges
Loch, handhoch und einen Schuh breit im Geviert.  Rasch warf er sein
Oberkleid ab und band sich einen schweren Guertel mit mehreren Taschen
ab, den er um den Leib trug.  Er hatte ihn schon in das Loch gelegt,
als er ploetzlich innehielt.  Nein, sagte er, es koennte eine Falle sein.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Polizei in Mietwohnungen
dergleichen Verstecke hat, um hernach bei Haussuchungen zu wissen, wo
sie anzuklopfen hat.  Dies ist zu lockend eingerichtet, um ihm trauen
zu koennen.

Er senkte die Steinplatte wieder ein und suchte nach einem sicheren
Behaelter fuer seine Geheimnisse.  Das Fenster nach der Sackgasse war
mit einem Gitter versehen, dessen Staebe einen Arm durchgreifen liessen.
Er oeffnete es, fasste hindurch und tastete an der Aussenwand herum.  Er
fand dicht unter dem Sims ein kleines Loch in der Mauer, das schon
einmal Fledermaeuse bewohnt zu haben schienen.  Von unten aus konnte es
nicht bemerkt werden, und oben sprang das Gesims darueber vor.
Geraeuschlos erweiterte er mit seinem Dolch die Oeffnung, indem er
Moertel und Steine herausbrach, und war bald so weit gediehen, dass er
den breiten Guertel bequem darin unterbringen konnte.  Als er fertig
war, stand ihm der kalte Schweiss auf der Stirn.  Er fuehlte noch einmal
nach, ob auch nirgend ein Stueck Riemen oder ein Schnalle hervorstehe,
und schloss dann das Fenster.  Eine Stunde spaeter lag er in Kleidern
auf dem Bett und schlief.  Die Muecken summten ueber seiner Stirn, die
Nachtvoegel draussen umschwirrten neugierig das Loch, worin sein Schatz
verborgen war.  Die Lippen des Schlaefers aber waren zu fest
geschlossen, um selbst im Traum ein Wort von seinen Geheimnissen zu
verraten.

In derselben Nacht sass in Verona ein Mann bei seiner einsamen Lampe
und entfaltete, nachdem er Fensterlaeden und Tuer sorgfaeltig
verschlossen hatte, einen Brief, der ihm heute in der Daemmerung, als
er in der Naehe des Amphitheaters sich erging, von einem bettelnden
Kapuziner heimlich zugesteckt worden war.  Der Brief trug keine
Aufschrift.  Aber auf die Frage, woher der Ueberbringer wisse, dass er
das Schreiben in die richtigen Haende gebe, hatte der Moench geantwortet:
jedes Kind in Verona kennt den edlen Angelo Querini wie seinen Vater.
Darauf war der Bote gegangen.  Der Verbannte aber, dessen Haft durch
die Achtung, die ihm in das Unglueck folgte, gelockert worden war,
hatte den Brief trotz der Spaeher, die ihn beobachteten, unbemerkt in
seine Wohnung gebracht und las jetzt, waehrend der Schritt der Wache
draussen am Hause drohend durch die Stille erklang, folgende Zeilen:

"An Angelo Querini.

"Ich kann nicht hoffen, dass Ihr Euch der fluechtigen Stunde erinnert,
in der ich Euch persoenlich begegnet bin.  Viele Jahre liegen zwischen
damals und heute.  Ich war mit meinen Geschwistern in der laendlichen
Stille unserer Gueter in Friaul aufgewachsen; erst als ich beide Eltern
verloren hatte, trennte ich mich von meiner Schwester und dem juengeren
Bruder.  Schon nach wenigen Tagen hatte mich der verfuehrerische
Strudel Venedigs verschlungen.

"Da wurde ich eines Tages im Palast Morosini Euch vorgestellt.  Noch
fuehle ich den Blick, mit dem Ihr uns junge Leute mustertet, einen nach
dem anderen.  Euer Auge sagte: und das ist das Geschlecht, auf dessen
Schultern die Zukunft Venedigs ruhen soll?--Man nannte Euch meinen
Namen.  Unvermerkt lenktet Ihr das Gespraech mit mir auf die grosse
Vergangenheit des Staates, dem meine Ahnen ihre Dienste gewidmet
hatten.  Von der Gegenwart und den Diensten, die ich ihm schuldig
blieb, schwiegt Ihr schonend.

"Seit jenem Gespraech las ich Tag und Nacht in einem Buch, das ich
frueher nie eines Blickes gewuerdigt hatte, in der Geschichte meines
Vaterlandes.  Die Frucht dieses Studiums war, dass ich, von Grauen und
Abscheu getrieben, die Stadt fuer immer verliess, die einst Laender und
Meere beherrscht hatte und nun die Sklavin einer klaeglichen Tyrannis
war, nach aussen so ohnmaechtig, wie unselig und gewalttaetig nach innen.

"Ich kehrte zu meinen Geschwistern zurueck.  Es gelang mir, meinen
Bruder zu warnen, ihm die Faeulnis des Lebens aufzudecken, das von fern
sich so gleissend ansah.  Aber ich dachte nicht, dass alles, was ich tat,
um ihn und uns zu retten, uns nur um so gewisser verderben sollte.

"Ihr kennt die Eifersucht, mit der die Machthaber in der Mutterstadt
den Adel der Terraferma von jeher betrachtet haben.  Hatte man doch in
Zeiten, wo der Republik zu dienen eine Ehre war, nie aufgehoert, ein
Losreissen des Festlandes zu fuerchten.  Jetzt, wo verschuldete und
unvermeidliche Uebel eine Aenderung der Weltstellung Venedigs
herbeigefuehrt hatten, wurde jene Furcht die Quelle der unerhoertesten
Raenke und Freveltaten.

"Lasst mich von den Schicksalen schweigen, die ich in der Nachbarschaft
meiner Provinz mit ansah, von den ausgesuchten Mitteln, durch die man
die Selbstaendigkeit und Unabhaengigkeit des Adels von Friaul zu brechen
suchte, von dem Heer der Bravi, welches man gegen Widerspenstige
schickte und durch eine Unzahl von Amnestiedekreten selbst von der
Strafe ihrer eigenen Gewissen entband.  Wie man den Zwist in die
Familien zu tragen, Freundschaften zu vergiften, Verrat und Hinterlist
im Schoss der engsten Blutsgenossenschaft zu erkaufen strebte, das
alles ist Euch laenger bekannt als mir.

"Und nicht lange sollte mich das Andenken, das ich durch meine
lockeren Sitten in Venedig zurueckgelassen hatte, vor dem Verdacht
schuetzen, dass auch ich eines Tages gefaehrlich werden koennte.  Als ich
fuer meine Schwester um die Erlaubnis nachsuchte, die Hand eines
vornehmen deutschen Herrn anzunehmen, wurde die Einwilligung der
Regierung rundweg verweigert.  Man waehnte mich und meinen Bruder im
Einverstaendnis mit der kaiserlichen Politik und beschloss, uns buessen zu
lassen.

"Eine Beschwerde der Provinz gegen ihren Gouverneur, die ich samt dem
Bruder mit unterzeichnete, lieferte der Inquisition den Anlass, das
Netz ueber uns zu werfen.

"Mein Bruder wurde nach Venedig gerufen, sich zu verantworten.  Als er
kam, wurde er unter die Bleidaecher gefuehrt, und viele Wochen lang
suchte man bald durch Drohungen, bald durch verlockende Anerbietungen
ihn zu Gestaendnissen zu bewegen.  Jenen einen Schritt brauchte er
nicht zu beschoenigen; er war gesetzlich.  Anderes hatte er nicht zu
gestehen, da wir nichts gegen den Staat unternommen hatten.  So musste
man ihn endlich entlassen.  Aber man dachte nicht daran, ihn zu
begnadigen.

"Ich selbst hatte ihn schriftlich gebeten, nicht sogleich abzureisen,
um nicht neuen Verdacht zu erwecken.  Wir wollten ihn lieber einige
Monate laenger entbehren.  Als er endlich kam, sollten wir ihn nach
wenigen Tagen fuer immer missen.  Er erlag einem langsam wirkenden Gift,
das man ihm in einem der glaenzenden Haeuser, die er besuchte, unter
die Speisen gemischt hatte.

"Noch war der Stein ueber seinem Grabe nicht aufgerichtet, als der
Gouverneur der Provinz meiner Schwester seine Hand antrug.  Sie wies
sie mit Entruestung zurueck; in ihrem Schmerz entfuhren ihr Worte, die
ihren Nachhall im Saal des Inquisitionstribunals finden sollten.

"Eine neue Anstrengung des Adels von Friaul, die Lage des Landes zu
bessern, wurde beraten.  Ich hielt mich von den geheimen Anstalten
fern, da ich von ihrer Fruchtlosigkeit ueberzeugt war.  Aber das boese
Gewissen der Herren der Republik deutete auf mich, als den am
haertesten Getroffenen, der einen Bruder zu raechen hatte.  Ein Haufen
gedungener Bravi ueberfiel nachts unsere einsame Villa in den Bergen.
Ich hatte nur meine Diener zur Verteidigung.  Als die Elenden uns
wohlgeruestet und entschlossen fanden, uns nicht leichten Kaufs zu
ergeben, zuendeten sie das Haus an vier Ecken an.  Ich machte mit
meinen Leuten einen verzweifelten Ausfall, die Schwester, die selbst
eine Pistole trug, in unserer Mitte.  Da streckte mich ein Schlag
gegen die Stirn besinnungslos zu Boden.

"Erst am Morgen wachte ich auf.  Die Staette war ein menschenleerer
Truemmerhaufen, meine Schwester in den Flammen umgekommen, meine braven
Diener teils erschlagen, teils in das brennende Haus zurueckgetrieben.

"Viele Stunden lag ich so neben dem rauchenden Schutt und starrte in
das leere Nichts, das mir meine Zukunft bedeutete.  Erst als ich unten
im Tal Bauern heranziehen sah, raffte ich mich auf.  Eins wusste ich:
Solange man mich am Leben glaubte, wuerde man mich fuer einen Feind
halten und ueberall hin verfolgen.  Das brennende Grab war geraeumig
genug; wenn ich verschwand, wuerde niemand zweifeln, dass auch ich dort
bei den Meinigen ausruhte.  Im Herumirren auf der Felshoehe fand ich
die Brieftasche eines meiner Bedienten, der aus Brescia gebuertig und
viel in der Welt herumgefahren war.  Seine Papiere lagen darin; ich
steckte sie zu mir, auf alle Faelle, und floh durch den dichten
Klippenwald.  Niemandem begegnete ich, der mich haette verraten koennen.
Als ich mich verschmachtet zu einem trueben Waldsee bueckte, sah ich,
dass auch mein Aeusseres mich nicht verraten konnte.  Mein Haar war in
der Nacht ergraut; meine Zuege waren um viele Jahre gealtert.

"In Brescia angelangt, konnte ich ohne Schwierigkeiten mich fuer meinen
Diener ausgeben, da derselbe schon als Knabe die Stadt verlassen hatte
und dort keine Verwandten mehr besass.  Fuenf Jahre lang lebte ich wie
ein lichtscheuer Verbrecher und vermied die Menschen.  Eine Ohnmacht
hatte sich auf meinen Geist gesenkt, als waere durch jenen Schlag, der
mich zu Boden warf, das Organ des Willens in mir zertruemmert worden.

"Dass es nicht zerstoert, sondern nur gelaehmt war, empfand ich bei der
Kunde von Eurem Auftreten gegen das Tribunal.  Mit einer fieberhaften
Spannung, die mich verjuengte und mir das Bewusstsein meiner Lebenskraft
zurueckgab, verfolgte ich die Nachrichten aus Venedig.  Als ich das
Scheitern Eures hochherzigen Wagnisses vernahm, sank ich nur auf einen
Augenblick in die alte dumpfe Resignation zurueck.  Im naechsten
Augenblick drang es wie ein Feuerstrom durch alle meine Sinne.  Der
Entschluss stand fest, das Werk, das Ihr auf dem offenen Wege des
Rechts und des Gesetzes nicht hattet vollbringen koennen, auf dem Wege
der Gewalt und einer furchtbaren Notwehr, mit dem Arm des unsichtbaren
Richters und Raechers zum Heil meines teuren Vaterlandes hinauszufuehren.

"Ich habe diesen Entschluss seither unablaessig geprueft und meine
Absicht unstraeflich gefunden.  Ich bin mir heilig bewusst, dass nicht
Hass gegen die Personen, nicht Rache fuer erlittenes Leid, nicht einmal
der gerechte Gram um das Weh, das meinen Lieben widerfahren, meinen
Arm gegen die Gewaltherren bewaffnet.  Was mich bewegt, fuer ein ganzes
in Knechtschaft versunkenes Volk als Retter aufzutreten und einzeln
den Spruch zu vollstrecken, der zu anderen Zeiten vom Gesamtwillen
einer freien Nation ueber ungerechte, dem Arm des Richters
unerreichbare Maechtige verhaengt worden ist,--es ist weder Eigensucht,
noch eitle Ruhmbegier; es ist nur eine Schuld, die ich durch eine
tatenlose Jugend auf mich geladen habe, und an deren Bezahlung mich
damals Euer Blick im Palast Morosini mahnte.

"Gott, in dessen Schutz ich meine Sache befehle, moege mir als einzigen
Ersatz fuer alles, was er mir genommen, die Gnade zuteil werden lassen,
dass ich in einem befreiten Venedig Euch noch einmal die Hand druecken
kann.  Ihr werdet die blutbefleckte nicht zurueckstossen, die dann in
keiner Freundeshand mehr ruhen wird; denn wer das Amt des Henkers
verwaltet hat, ist der Einsamkeit geweiht und hat den Blick der
Menschen zu meiden.  Gehe ich aber an meinem Werk zu Grunde, so weiss
derjenige, an dessen Achtung mir am meisten gelegen ist, dass es auch
in dem juengeren Geschlecht nicht ganz an Maennern fehlt, die fuer
Venedig zu sterben wissen.

"Diesen Brief wird Euch ein zuverlaessiger Mann zustellen, der das
Kleid eines Sekretaers der Inquisition mit der Moenchskutte vertauscht
hat, um durch Fasten und Gebet die Suenden der Republik zu buessen, denen
er seine Feder leihen musste.  Verbrennt dieses Blatt.  Lebt wohl!
Candiano."

Als der Verbannte den Brief zu Ende gelesen hatte, sass er wohl eine
Stunde in tiefem Kummer vor den verhaengnisvollen Blaettern.  Dann hielt
er sie ueber die Flamme, streute die Asche in den Kamin und ging
ruhelos bis an den fruehen Morgen auf und nieder, waehrend der
Unglueckliche, dessen Beichte er vernommen, wie einer, dessen Sache
gerecht und dessen Sachwalter der Himmel ist, schon laengst den Schlaf
gefunden hatte.-Am anderen Tage ging der spaete Ankoemmling in der
Strasse della Cortesia zeitig aus.  Das lustige Singen Mariettas
draussen auf dem Flur haette ihn vielleicht noch laenger schlafen lassen,
aber das laute Schelten der Mutter, dass sie einen Laerm mache, der
einen Toten erwecken koenne, und dass sie noch alle Fremden aus dem
Hause treiben wuerde, ermunterte ihn voellig.  Er hielt sich an der
Stiege, wo seine Wirtin bereits auf ihrem alten Posten sass, nur gerade
so lange auf, um sich nach den Wohnungen einiger Notare und Advokaten
zu erkundigen, deren Namen ihm ein Freund in Brescia aufgeschrieben
hatte.  Als er Bescheid wusste, konnte weder die zaertliche Sorge der
Witwe um seine Gesundheit, noch die rote Schleife, die Marietta in ihr
Haar gesteckt hatte, ihn zu laengerem Verweilen bewegen, und waehrend
sich die gute Frau sonst bemueht hatte, den Verkehr ihrer Mietsleute
mit ihrer Tochter moeglichst zu verhindern, war es ihr jetzt fast
unheimlich, dass der Fremde das liebe Geschoepf, ihren Augapfel,
hartnaeckig uebersah.  Sein ergrautes Haar erklaerte ihr diese seltsame
Blindheit nicht genuegend.  Er musste einen geheimen Kummer haben oder
sich so krank fuehlen, dass ihm der Anblick eines frischen Lebens wehe
tat.  Dennoch ging er straff und rasch, und seine Brust war breit und
gewoelbt, so dass die Krankheit, von der er sprach, tief im Innern ihren
Sitz haben musste.  Auch seine Gesichtsfarbe war nicht verdaechtig.  Wie
er die Strassen Venedigs durchschritt, zog er den wohlgefaelligen Blick
manch eines Frauenauges auf sich, und auch Marietta sah ihm aus einem
der oberen Fenster nicht ohne Anteil nach.

Er aber ging in sich gekehrt seinen Geschaeften nach, und obgleich er
sich bei Frau Giovanna umstaendlich nach dem Weg erkundigt hatte und
endlich ueber seine Ortsunkenntnis durch das Spruechlein: "Mit Fragen
kommt man bis Rom" von ihr getroestet worden war, schien er doch jetzt
ohne alle Hilfe sich in dem Netz der Gassen und Kanaele zurechtzufinden.
Mehrere Stunden vergingen ihm mit Besuchen bei Advokaten, die aber
auf seine Empfehlung von einem Kollegen aus Brescia wenig Gewicht
legten und denen er, so bescheiden er auftrat, verdaechtig vorkommen
mochte.  Denn allerdings war ein gewisser Stolz in der Falte seiner
Stirn, der einem schaerferen Beobachter sagte, dass er die Arbeit, die
er suchte, eigentlich unter seiner Wuerde hielt.  Zuletzt kam er zu
einem Notar, der in einem Seitengaesschen der Merceria wohnte und
allerlei Winkelgeschaefte nebenbei zu treiben schien.  Hier fand er mit
einem sehr maessigen Gehalt eine Stelle als Schreiber, vorlaeufig zum
Versuch, und die hastige Art, wie er zugriff, brachte den Mann zu dem
Verdacht, er habe es etwa mit einem verarmten Nobile zu tun, deren
mancher, nur um das Leben zu fristen, sich zu jeder Arbeit willig
finden liess, ohne um ihren Preis zu handeln.

Andrea jedoch war augenscheinlich mit dem Erfolg seiner Bemuehungen
sehr zufrieden und trat, da es inzwischen Mittag geworden war, in die
naechste Schenke, wo er Leute aus den unteren Klassen an langen
ungedeckten Tischen sitzen sah, die ihre sehr einfache Kost mit einem
Glas trueben Weins wuerzten.  Er nahm seinen Platz in einem Winkel nahe
der Tuer und ass die etwas ranzigen Fische ohne Murren, waehrend er
freilich den Wein, nachdem er ihn gekostet hatte, verschmaehte.  Er war
schon im Begriff, nach der Zeche zu fragen, als er sich von seinem
Nachbar hoeflich anreden hoerte.  Der Mann, den er bisher ganz uebersehen
hatte, sass schon lange vor seiner halben Flasche Wein, ass nichts,
trank nur dann und wann einen Schluck, wobei er jedesmal den Mund ein
wenig verzog; waehrend er aber scheinbar vor Muedigkeit die Augen halb
geschlossen hielt, wanderten seine scharfen Blicke durch die ganze
duesterliche Halle und hefteten sich mit besonderem Anteil an unseren
Brescianer, der seinerseits nichts Merkwuerdiges an ihm wahrgenommen
hatte.  Es war ein Mann in den Dreissigen, mit blondem, lockigen Haar,
der in der schwarzen venezianischen Tracht seine juedische Herkunft
nicht sogleich verriet.  In den Ohren trug er schwere goldene Ringe,
an den Schuhen Schnallen mit grossen Topasen, waehrend sein Halskragen
zerknittert und unsauber und sein Rock von feinem Wollenstoff seit
Wochen nicht gebuerstet war.

Dem Herrn schmeckt der Wein nicht, sagte er halblaut, indem er sich
geschmeidig zu Andrea hinbog.  Der Herr scheint ueberhaupt nur aus
Irrtum hier zu sein, wo man nicht gewohnt ist, Gaeste von besserem
Stande zu bewirten.

Um Vergebung, Herr, erwiderte Andrea ruhig, obwohl er sich Gewalt
antat, ueberhaupt zu antworten, was wisst Ihr von meinem Stande?

Ich seh es an der Art, wie der Herr isst, dass er eine andere
Gesellschaft gewohnt ist, als er hier findet, sagte der Jude.

Andrea mass ihn mit einem festen Blick, vor dem das lauernde Auge des
anderen sich senkte.  Dann schien ein Gedanke in ihm aufzusteigen, der
ihn ploetzlich bewog, dem Zudringlichen mit einer Art von
Vertraulichkeit entgegenzukommen.

Ihr seid ein scharfer Menschenkenner, sagte er.  Es ist Euch nicht
entgangen, dass ich einst bessere Tage gesehen und einen unverfaelschten
Wein getrunken habe.  Auch kam ich in gute Gesellschaft, obwohl ich
der Sohn eines kleinen Buergers bin und nur kuemmerlich die Rechte
studiert habe, ohne einen Titel zu erwerben.  Das hat sich geaendert.
Mein Vater machte Bankrott, ich wurde arm, und ein armer
Gerichtsschreiber und Advokatengehilfe hat auf nichts Besseres
Anspruch zu machen, als was er in dieser Kneipe findet.

Ein studierter Herr hat immer Anspruch auf Verehrung, sagte der andere
mit einem sehr verbindlichen Laecheln.  Es wuerde mich gluecklich machen,
wenn ich Euer Gnaden einen Dienst erweisen koennte; denn ich habe stets
nach dem Umgang gelehrter Maenner gestrebt und bei meinen vielen
Geschaeften nicht selten die Gelegenheit gehabt, mich ihnen zu naehern.
Wenn ich Euer Gnaden vorschlagen duerfte, ein besseres Glas Wein mit
mir zu trinken, als hier zu haben ist...

Ich kann besseren Wein nicht bezahlen, sagte der andere gleichgueltig.

Es wuerde mir eine Ehre sein, gegen den Herrn, der hier fremd scheint,
die venezianische Gastfreundschaft zu ueben.  Wenn ich sonst mit meinem
Vermoegen und meiner Ortskenntnis dem Herrn irgend nuetzlich sein kann...

Andrea wollte ihm eben ausweichend antworten, als er bemerkte, dass der
Wirt der Schenke, der im Hintergrunde am Kredenztische stand, ihn
lebhaft mit dem kahlen Kopf zu sich heranwinkte.  Auch von den anderen
Gaesten, die aus Handwerkern, Marktweibern und Tagedieben bestanden,
machte ihn mancher mit verstohlenen Zeichen aufmerksam, dass man ihm
gern etwas mitgeteilt haette, was man nicht laut zu sagen wagte.  Unter
dem Vorwand, erst zu bezahlen, ehe er auf die hoefliche Einladung
antwortete, verliess er seinen Platz und ging mit der lauten Frage, was
er schuldig sei, auf den Wirt zu.

Herr, fluesterte der gutmuetige Alte, nehmt Euch in acht vor dem.  Ihr
habt es mit einem Schlimmen zu tun.  Die Inquisitoren bezahlen ihn,
dass er die Heimlichkeiten der Fremden ausspuert, die sich hier blicken
lassen.  Seht Ihr nicht, dass der Winkel leer ist, wo er Platz genommen
hat?  Sie kennen ihn alle, und naechstens fliegt er einmal zur Tuer
hinaus, der Gott Abrahams gesegn' es ihm!  Ich aber, obwohl ich ihn
dulden muss, um mir nicht die Finger zu verbrennen, bin es Euch doch
schuldig, Euch reinen Wein einzuschenken.  Ich dank' Euch Freund,
sagte Andrea laut.  Euer Wein ist ein wenig truebe, aber gesund.  Guten
Tag.

Damit kehrte er auf seinen Platz zurueck, nahm seinen Hut und sagte zu
seinem dienstfertigen Nachbar: Kommt, Herr, wenn es Euch gefaellt.  Man
sieht Euch hier nicht gern, fuegte er leiser hinzu.  Man haelt Euch fuer
einen Spion, wie ich habe merken koennen.  Wir wollen anderswo unsere
Bekanntschaft fortsetzen.

Das schmale Gesicht des Juden erblasste.  Bei Gott, sagte er, man
verkennt mich!  Aber ich kann es den Leuten nicht verdenken, wenn sie
auf der Hut sind, denn es wimmelt hier in Venedig von Spuerhunden der
Signoria.  Meine Geschaefte, fuhr er fort, als sie schon auf der Gasse
waren, meine vielen Verbindungen fuehren mich in so manche Haeuser, dass
es wohl scheinen mag, als bekuemmerte ich mich um fremde Geheimnisse.
Gott soll mich leben lassen hundert Jahr, aber was gehen mich fremde
Leute an?  Wenn sie mir zahlen, was sie mir schuldig sind, will ich
ein Hund sein, wenn ich ihnen was nachrede.

Ich meine aber doch, Herr--wie ist Euer Name?

Samuele.

Ich meine aber, Herr Samuele, dass Ihr zu uebel denkt von denen, die zum
Besten des Staates die Plaene und Anschlaege der Buerger ausspaehen und
Verschwoerungen gegen die Republik an den Tag bringen, ehe sie schaden
koennen.  Der Jude stand still, hielt den andern am Aermel und sah ihn
an.  Warum hab ich Euch nicht gleich erkannt? sagte er.  Ich musste
wissen, dass Ihr nicht zufaellig in jene elende Kneipe geraten konntet,
dass ich einen Kollegen in Euch zu begruessen hatte.  Seit wann seid Ihr
im Amt?

Ich? seit uebermorgen.

Was meint Ihr, Herr?  Wollt Ihr mich foppen?

Wahrlich nicht, erwiderte Andrea.  Denn es ist mein voller Ernst, dass
ich naechstens so weit kommen werde, mich in Euern Orden aufnehmen zu
lassen.  Es geht mir schlecht, wie ich Euch gesagt habe, und ich bin
nach Venedig gekommen, meine Umstaende zu verbessern.  Der
Schreiberlohn, um den ich mich heute bei einem Notar verdungen habe,
ist nicht das, was ich hier vom Glueck und von meinem bisschen Verstand
erhofft habe.  Venedig ist eine schoene Stadt, eine lustige Stadt; aber
in dem Lachen der schoenen Weiber ist ein Goldklang, der mich immer an
meine Armut erinnert.  Ich denke, das kann nicht immer so waehren.

Euer Vertrauen ehrt mich sehr, sagte der Jude mit einem nachdenklichen
Zug.  Aber ich muss Euch sagen, dass die Herren nicht gern fremde
Ankoemmlinge in ihre Dienste nehmen, ehe sie eine Probezeit bestanden
und sich ein wenig umgesehen haben.  Wenn ich Euch bis dahin mit
meiner Boerse aushelfen kann--ich nehme niedrige Prozente von meinen
Freunden.

Ich dank' Euch, Herr Samuele, erwiderte Andrea gleichmuetig.  Eure
Protektion ist mir wertvoller, der ich mich hiermit bestens empfohlen
haben will.  Dies aber ist mein Haus; ich noetige Euch nicht hinein,
weil ich Arbeit vollauf habe fuer meinen neuen Brotherrn.  Andrea
Delfin ist mein Name.  Wenn es Zeit ist, dass man mich brauchen kann,
denkt an mich: Andrea Delfin, Calle della Cortesia.

Er schuettelte dem seltsamen Freunde die Hand, der draussen noch eine
Weile stehen blieb, sich das Haus und die naechste Umgebung genau ansah
und dabei mit einer Miene des Zweifels und der listigen Ueberlegung vor
sich hinmurmelte, aus der hervorging, dass er den Brescianer von seiner
Probezeit nicht so rasch freisprechen wuerde.

Als Andrea die Treppe hinaufstieg, konnte er an Frau Giovanna nicht
vorueber, ohne ihr Rede zu stehen.  Sie war nicht damit zufrieden, dass
er nur einen so geringen Platz gefunden hatte.  Sie werde nicht ruhen,
bis er ihn aufgegeben und sich einen eintraeglicheren und ehrenvolleren
gesucht habe.  Er schuettelte den Kopf.  Es reicht wohl, gute Frau,
sagte er ernsthaft, fuer die Spanne Zeit, die ich noch vor mir habe.

Was Ihr auch redet! schalt die Frau.  Dem Guten entgegen gehen und das
Boese kommen lassen, so ziemt sich's fuer einen Mann, und nach Honig
schleckt man, nach Wermut spuckt man.  Seht die schoene Sonne draussen
und schaemt Euch, dass Ihr schon nach Hause kommt, waehrend auf der
Piazetta Musik ist und alles, was huebsch und reich und vornehm ist,
den Markusplatz auf und ab spaziert.  Da gehoeret Ihr hin, Herr Andrea,
statt ins Zimmer.

Ich bin weder huebsch, noch reich, noch vornehm, Frau Giovanna.

Habt Ihr denn gar keine Freude, die schoene Welt zu sehen? fragte sie
eifrig, und sah sich dabei um, ob Marietta nicht etwa in der Naehe sei.
Ihr seid doch nicht etwa liebeskrank?

Nein, Frau Giovanna.

Oder haltet Ihr's gar fuer eine Suende, lustig zu sein?  Ihr habt da so
Buechlein auf Eurem Tisch liegen, ich sag' es nur, weil Ihr der erste
Fremde seid, der in mein Haus ein erbauliches Buch mitgebracht hat,
Gott sei's geklagt!  Aber die Jugend denkt heutzutage: Frech gelebt
und fromm gestorben, heisst dem Teufel den Spass verdorben, und um
Weihnachten fasten auch die Spatzen auf dem Dach.

Gute Frau, sagte er laechelnd, ihr sorgt Euch sehr um mich, aber mir
ist nicht zu helfen.  Wenn ich still bei meiner Arbeit sitze, ist mir
am wohlsten, und Ihr koenntet mir einen Gefallen tun, mir ein
Schreibzeug zu schaffen und einige Bogen Papier.

Bald darauf brachte ihm Marietta das Verlangte auf sein Zimmer, wo er
stumm am Fenster sass und vor sich hin sah.  In derselben Stellung fand
sie ihn abends, als sie ihm das Licht brachte, und auf ihre Frage, was
er zu essen begehre, verlangte er nur Brot und Wein.  Sie hatte nicht
den Mut, zu fragen, ob ihn die Muecken belaestigen und er wieder
geraeuchert haben wolle.  Mutter, sagte sie, als sie sich neben die
Alte auf die Treppe setzte, ich gehe nicht wieder zu ihm hinein.  Er
hat so Augen, wie der Maertyrer in der kleinen Kapelle San Stefano.
Ich kann nicht lachen, wenn er mich ansieht.

Was sie wohl gesagt haette, wenn sie einige Stunden spaeter ins Zimmer
getreten waere?  Er stand, waehrend die Nacht draussen ueber den Kanal
wehte, am Fenster, im Gespraech mit der Zofe drueben, eifrig bemueht,
seinen Augen einen weltlichen Ausdruck zu geben.

Schoene Smeraldina, sagte er, ich konnte die Zeit nicht erwarten, dich
wiederzusehen.  Ich habe im Vorbeigehen bei einem Goldschmiedladen an
dich gedacht und dir eine Nadel gekauft, von Filigran, die freilich zu
gering fuer dich ist, aber dennoch echter als die Agraffe an deinem
Turban.  Oeffne das Fenster, so werf' ich sie hinueber, in der
Hoffnung, bald einmal denselben Weg durch die Luft zu machen und dir
zu Fuessen zu fallen.

Ich seid sehr artig, laechelte das Maedchen und fing das Geschenk, das
er in ein Papier gewickelt hatte, mit beiden Haenden auf.  Ei, was Ihr
fuer einen guten Geschmack habt! und Ihr sagtet doch Ihr waeret arm?
Wisst Ihr, dass es mir heute besonders not tut, eine Freude zu haben?
Wir haben viel ausgestanden ueber Tag, die Graefin ist schlechter Laune.
Ihr Liebster, der junge Gritti, des Senators Sohn, hat sich
vierundzwanzig Stunden nicht blicken lassen.  Sie hat nach seinem
Hause geschickt; und da wurde er vermisst, und man glaubt, das Tribunal
habe ihn heimlich aufheben und gefangen nehmen lassen.  Meine Graefin
ist ausser sich, sie empfaengt niemanden, sie liegt auf ihrem Sofa und
weint wie eine Unsinnige und hat mich geschlagen, als ich sie troesten
wollte.

Ihr habt keine Ahnung, wessen man den Juengling angeklagt?

Nicht die geringste, Herr.  Ich wollt' auch Geluebde tun, ewig Jungfer
zu bleiben, wenn er das mindeste gegen den Staat im Kopf hatte.
Lieber Himmel, er war eben dreiundzwanzig Jahre, und nichts lag ihm am
Herzen, als meine Graefin und allenfalls das Spiel.  Aber diese Herren
von der Inquisition wissen Euch aus einem Spinneweb ein Seil zu drehen,
stark genug, um die staerkste Kehle zuzuschnueren, und wer weiss, ob es
diesmal nicht allein gegen seinen Vater, den Senator, gemuenzt ist!

Sprecht vorsichtiger von den obersten Behoerden dieser Stadt, sagte
Andrea leise.  Die Weisheit der Vaeter hat sie eingesetzt, und die
Torheit der Enkel soll sie nicht antasten.

Das Maedchen sah ihn an, ob es sein Ernst sei; es war nicht leicht, das
Raetsel dieser Mienen zu loesen.  Geht, sagte sie, Ihr werdet ernsthaft,
und das mag ich nicht leiden.  Ihr seid noch nicht lange hier, darum
habt Ihr Respekt vor den alten Blutrichtern und Henkern, die sich von
fern oder etwa gemalt sehr ehrwuerdig ausnehmen moegen.  Ich aber habe
sie schon manchmal in der Naehe gesehen, am Farotisch, wenn meine
Graefin Bank hielt, und ich kann Euch sagen, sie sind auch Menschen,
wie Adam war.

Mag sein, Kind, antwortete er, aber sie haben die Gewalt, und ein
armer Buerger wie ich tut nicht klug, so verfaengliche Reden hier am
offenen Fenster zu wechseln.  Wenn es zu boesen Haeusern kommt, dass wir
beide die inkarnierte Gerechtigkeit Venedigs fuer nichts Besseres als
eine Handvoll sterblicher Menschen halten, so beschuetzt dich, meine
teure Smeraldina, der Zauber deiner Schoenheit; ich aber wandere den
bekannten nassen Weg oder tausche wenigstens mein Quartier in der
Calle della Cortesia mit einer viel bescheideneren Kammer in den
Brunnen* oder unter den Bleidaechern.

{ed. * Die Gefaengnisse unter dem Meeresgrunde}

Ihr koennt hier reden, was Euch beliebt, sagte die Zofe; es gehen wenig
Fenster auf den Kanal hinaus, und da hat um diese Zeit niemand was zu
schaffen.  Auf Eurer Seite drueben ist nun vollends die leere Mauer;
denn wer's besser haben kann, sucht sich unsere truebe Kloake da unten
nicht gerade zum Spiegel aus.  Aber wisst Ihr was?  Ihr solltet auf ein
Stuendchen herueberkommen; man haette es doch immer bequemer, miteinander
zu plaudern, und ein Glas Wein, guter Moscat von Samos und eine Partie
Tarock wuerden mir die Nerven sehr beruhigen nach den Ohrfeigen der
Graefin.

Ich kaeme gern, sagte er, aber es wuerde Aufsehen machen, und meine
Wirtin liesse mich um Mitternacht schwerlich wieder ein.

Nicht doch, lachte die Zofe.  Einen solchen Umweg braucht es nicht.
Ich habe hier ein Brett, womit wir ohne viel Umstaende eine Bruecke
schlagen koennen.  Man kann sich ja mit den Haenden abreichen ueber dem
Kanal; warum nicht mit den Fuessen?  Oder seid Ihr schwindlig?

Nein, schoene Freundin.  Nur einen Augenblick, und ich bin bereit.

Andrea loeschte das Licht, verriegelte die Tuer in seinem Zimmer,
horchte, ob alles im Hause schlafe, und ging dann wieder an das
Fenster.  Smeraldina schien Uebung im Bau dieser Bruecken zu haben, denn
das Brett war bereit, und in wenigen Augenblicken lag der feste Steg
ueber der Tiefe, hueben und drueben flach und sicher auf dem Gesims
ruhend und gerade breit genug, um einen Mann zu tragen.  Sie stand
drueben und winkte ihm lustig zu.  Rasch erstieg er den Sims, betrat
das Brett, indem er die Tiefe mit festem Auge mass, und mit einem
einzigen ruhigen Schritt hatte er das Fenster drueben erreicht.  Sie
fing ihn, als er sich hinabschwang, in ihren Armen auf, und ihre
Lippen streiften seine Wange.  Aber er zog es vor, die Miene der
Schuechternheit anzunehmen und sich zu stellen, als fuehle er sich durch
die Naehe seiner Freundin in die Schranken der Ehrerbietung
zurueckgewiesen, was sie mit einiger Verwunderung aufnahm.  Das Brett
ward wieder zurueckgezogen, die Karten und der Wein aus dem Schrank
geholt und ein Tisch vor das offene Fenster gerueckt, an dem das
seltsame Paar in vertraulichem Gespraech Platz nahm.  Dabei trug das
Maedchen bestaendig den roten Turban, der ihr, waehrend sie die Bruecke
schlug, etwas schief auf den Hinterkopf gerutscht war, und hatte
Andreas Geschenk, die Filigrannadel, zierlich vor die Brust gesteckt.

Sie schenkte sich eben das zweite Glas Wein ein und schalt ihren Gast,
dass er so langsam trinke, und ueberhaupt nicht recht auftauen wollte,
als eine Glocke aus dem Innern des Hauses heftig gelaeutet wurde.

Seht, sagte das Maedchen, indem es aufstand und zornig die Karten
wegwarf, so geht es mir; keine ruhige Stunde habe ich!  Erst schickt
sie mich fort, weil sie sich heute allein auskleiden wolle, und nun
stoert sie mich noch so spaet.  Aber geduldet Euch nur zehn Minuten,
mein Freund; ich bin gleich wieder bei Euch.

Sie schluepfte hinaus, und er schien sich ueber seine Einsamkeit zu
troesten.  Er trat ans Fenster und betrachtete aufmerksam die Wand
drueben zwischen seinem Fenster und dem Kanal.  Sie war nicht hoeher als
etwa zwanzig Fuss, der Kalk durch die Feuchtigkeit fast ueberall
verwittert und die nackten Steine rauh genug, um im Notfall daran
emporzuklimmen.  Unter dem Fenster der Zofe sprang, wie er schon am
ersten Abend bemerkt hatte, die Wassertreppe vor, und an dem hohen
Pfahl zur Seite lag die schmale Gondel angekettet, so dass nur eben
eine zweite Gondel voruebergleiten konnte.  Das alles befriedigte ihn
sichtlich.

Ich haette es mir nicht besser bestellen koennen, murmelte er vor sich
hin.

Nachdenklich sah er den Kanal hinab, der in voelliger Finsternis
zwischen den steilen, fensterlosen Ufern der Haeuser hinfloss.  Da sah
er am untersten Ende einen schwachen Lichtschein, der sich naeher
bewegte, und hoerte nach einiger Zeit Geraeusch von Ruderschlaegen.  Eine
Gondel kam langsam heran und hielt unten an der Wassertreppe.
Vorsichtig bog der Lauscher oben sich zurueck, um nicht bemerkt zu
werden, sah aber noch mit einem halben Blick, dass ein Mann sich erhob
und auf die Treppenstufe trat.  Der Klopfer unten erklang in drei
gewichtigen Schlaegen, und bald darauf hoerte er eine Stimme im Hause,
die durch die Tuere fragte, wer Einlass begehre.

Im Namen des erlauchten Rates der Zehn, war die Antwort, oeffnet!

Der Diener unten gehorchte augenblicklich, und die Wasserpforte schloss
sich hinter dem naechtlichen Besuch.

Kurz darauf kam Smeraldina in ihre Kammer zurueck, aufgeregt, in blossem
Haar und mit erhitzten Wangen.  Habt Ihr gehoert? fluesterte sie.  O
Gott, sie werden unsere Graefin fortschleppen, sie werden sie
erdrosseln oder ersaeufen, und wer steht mir dann fuer die sechs Monate
Lohn, die sie mir schuldig ist?

Troeste dich, weichherziges Kind, sagte er rasch.  Solange du gute
Freunde hast, wirst du nicht verlassen sein.  Aber du taetest mir einen
Gefallen, wenn du mich irgendwo verbergen wolltest, wo ich hoeren
koennte, was der hohe Rat von deiner Herrin will.  Ich gestehe, dass ich
neugierig bin, wie ein Fremder es ja wohl sein darf.  Ueberdies aber
koennte ich dir und der Graefin vielleicht nuetzlich sein, da ich bei
einem Advokaten arbeite und, wenn es auf eine oeffentliche Anklage
hinauslaeuft, meine geringen Dienste gern zur Verfuegung stelle.

Sie besann sich.  Ich wuesste es leicht zu machen, sagte sie.  Der Ort
ist sicher, und ich selbst habe manchmal dort gesteckt und meinen
Ohren nicht getraut.  Wenn es aber doch entdeckt wuerde?

So nehme ich alles auf mich, mein Liebchen, und niemand erfaehrt, auf
welchem Wege ich ins Haus gekommen bin.  Sieh, fuhr er fort, hier sind
drei Zechinen, fuer den Fall, dass ich dir hernach nicht mehr danken
kann.  Geht aber alles gut, so sollst du sehen, dass ich das wenige,
was ich noch uebrig habe, gern mit einer so klugen Freundin teilen
werde.

Sie steckte das Gold ohne Umstaende ein, oeffnete rasch die Tuer und
horchte auf den dunklen Gang hinaus.  Zieht die Schuhe aus, fluesterte
sie; gebt mir die Hand und folgt mir dreist, wohin ich gehe.  Im Hause
schlaeft alles, ausser dem Pfoertner.

Sie loeschte ihr Licht und huschte durch den Korridor voran, ihn an der
Hand sich nachziehend.  Einige grosse dunkle Gemaecher durchschritten
sie, dann oeffnete das Maedchen die Tuer nach einem Tanzsaal, der durch
drei hohe Fenster in der Front des Palastes ein truebes Daemmerlicht
erhielt.  An einer Seite stieg ein Treppchen hinauf zu der Estrade fuer
die Musiker.  Sacht! warnte das Maedchen; die Treppe knarrt ein wenig.
Ich lasse Euch hier allein.  Droben findet Ihr im Getaefel eine Spalte,
durch die Ihr hinlaenglich sehen und hoeren koennt.  Denn nebenan ist das
Empfangzimmer der Graefin.  Wenn der Besuch fort ist, hol' ich Euch
wieder ab.  Aber nicht eher ruehrt Ihr Euch vom Fleck, als bis ich
komme.

So liess sie ihn allein, und ohne Zaudern stieg er die wenigen Stufen
hinauf und tastete sich sacht an der Wand entlang nach dem
Lichtstreifen, der durch die schmale Spalte drang.  Der Saal war von
dem Nebengemach nur durch eine Holzwand getrennt, da beide Raeume in
glaenzenderen Zeiten eine einzige grosse Festhalle ausgemacht hatten.
Der Schein kam von einem silbernen Armleuchter, der unten auf dem
Tisch vor dem Ruhebett der Graefin stand und die Bildnisse an der Wand
nur unstet beleuchtete.  Andrea musste sich auf die Kniee kauern, um
hinabzusehen.  Aber so unbequem die Stellung war, so haette wohl
mancher gern mit ihm getauscht, auch wenn ihm weniger am Hoeren als am
Sehen gelegen gewesen waere.

Denn wenn die Zofe recht hatte, dass ihre Herrin sich stark zu
schminken pflegte, so tat sie es wahrlich mehr der Mode zu Liebe, als
weil sie es noetig haette, um fuer schoen zu gelten.  Sie sass auf dem
Ruhebett in einem Anzug, der nicht auf so spaeten Besuch berechnet war,
die ueberaus reichen, etwas ins Roetliche spielenden Haare kunstlos
aufgebunden, die verweinten Augen wunderbar glaenzend, auf den vollen,
blassen Wangen noch die Spur der Traenen.  Der Mann, der ihr gegenueber
im Lehnstuhl sass und Andrea den Ruecken zukehrte, schien sie aufmerksam
zu betrachten; wenigstens bewegte er den Kopf nur selten und hoerte die
heftigen Worte der schoenen Frau, ohne eine Gebaerde dazwischen zu
werfen, mit an.

In der Tat, sagte die Graefin, und in ihrer Miene lag dieselbe
schmerzliche Bitterkeit wie im Ton ihrer Stimme, ich muss mich wundern,
dass Ihr noch wagt, Euch hier sehen zu lassen, nachdem Ihr die
feierlichsten Versprechungen so schmaehlich mit Fuessen getreten habt.
Hab' ich Euch darum so manche Dienste geleistet, dass Ihr mir jetzt so
grausam, so feindselig begegnet?  Wo habt Ihr ihn gelassen, meinen
armen Freund, den einzigen, an dem mir gelegen war, und den Ihr unter
allen Umstaenden zu schonen verspracht?  Gab es niemand anders als ihn,
wenn es Euch zu leer wurde in Euren Gefaengnissen?  Und was habt Ihr
Verdaechtiges an ihm gefunden, was hat er gegen die hohe Republik
gesuendigt, wofuer es keine gelindere Strafe gab als Verbannung, keine,
die minder schwer auf mich gefallen waere?  Denn ich habe es Euch nicht
verhehlt, dass ich mein Herz an ihn gehaengt habe, und dass der mein
Feind waere, der ihm nur ein Haar kruemmte.  Gebt ihn mir wieder, oder
ich breche jede Verbindung mit Euch ab, ein fuer allemal, und verlasse
Venedig und suche meinen Freund in der Verbannung auf und lasse Euch
empfinden, wie viel Ihr durch diesen Verrat, durch diese
Schaendlichkeit eingebuesst habt.  O, dass ich mich jemals zu Eurem
Werkzeug hergab!

Ihr vergesst, Graefin, sagte der Mann, dass wir Mittel haben, Eure Flucht
zu hindern, und dass, selbst wenn sie glueckte, unser Arm weit
hinausreicht und stark genug ist, Euch ueberall zu verderben, wo Ihr
eine Zuflucht zu finden glaubtet.  Der junge Gritti hat seine Strafe
verdient.  Er hat trotz der Warnung, die wir ihm zugehen liessen, mit
dem Sekretaer des oesterreichischen Gesandten, einem sehr tief
eingeweihten jungen Manne, den Verkehr eifrig fortgesetzt.  Die
Gesetze Venedigs verbieten solchen Verkehr aufs strengste, wie Euch
bekannt genug ist.  Auch ist ein Brief des Angelo Querini aufgefangen
worden, in welchem des unbesonnenen Juenglings lobende Erwaehnung
geschieht.  Es war eine vaeterliche Massregel, dass wir ihn verbannten,
ehe er schuldiger wurde.  Aber wir wissen zugleich, was wir Euch
schuldig sind, Leonora.  Und deshalb bin ich an Euch abgeschickt
worden, Euch diese Aufschluesse zu geben und einige Winke, wie Ihr,
wenn Ihr verstaendig seid, das Geschehene wieder gut machen koennt.

Ich bin es muede, sagte sie heftig, mir von Euch Befehle geben zu
lassen.  Dieser Tag hat mir gezeigt, dass ich darueber zu Grunde gehe,
frueh oder spaet, wenn ich auf Euch Vertrauen setze und mir einbilde,
dass all meine Aufopferung in Eurem Interesse mir je gedankt werde, ja,
mich auch nur vor den schnoedesten Beleidigungen und Kraenkungen
schuetzen wuerde.  Ich brauche Euch nicht, ich will nichts von Euch, es
ist alles aus zwischen mir und dieser hohen Regierung, die Freund und
Feind gleich ruecksichtslos beiseite wirft.

Nur schade, warf er ein, dass man Euch noch braucht, von Euch noch
etwas will, und dass es daher fuers erste zwischen uns noch nicht aus
sein kann.  Ihr begreift, Leonora, dass es seine Bedenken haette, Euch,
die Mitwisserin so vieler Geheimnisse der Republik, in fremde Laender
reisen zu lassen, wo Ihr bald einmal von der allgemeinen Sucht der
Zeit befallen werden koenntet, Eure Memoiren zu schreiben.  Venedig und
Ihr seid unzertrennlich, und Ihr habt genug Proben einer hohen, ueber
Weiberlaune erhabenen Klugheit gegeben, als dass es noch vieler
Umschweife beduerfte, Euch wieder zu versoehnen.

Ich will nichts von Versoehnung hoeren! rief sie leidenschaftlich, und
Traenen traten ihr wieder ins Auge.  Was nuetzte es auch, es zu wollen?
Ich tauge zu nichts, ich bin unfaehig, nur den einfaeltigsten Gedanken
zu fassen, wenn ich meinen armen Gritti nicht habe.

Ihr sollt ihn haben, Leonora.  Aber noch nicht gleich, da seine
ploetzliche Rueckkehr unseren Plan kreuzen wuerde.

Und wie lange soll ich mich gedulden? fragte sie, ihn flehentlich
ansehend.

Es haengt von Euch ab, erwiderte er.  Wie lange braucht Ihr, um einen
jungen Mann zu Euren Fuessen zu sehen, der bisher im Ruf eines
Tugendhelden stand?

Ein Zug von Neugier und Interesse trat auf ihrem Gesicht hervor, das
noch eben ganz Schmerz und Verzweiflung gewesen war.  Von wem redet
Ihr? fragte sie.

Von jenem Deutschen, der mit Gritti befreundet war, dem Sekretaer des
Wiener Ministers.  Ihr kennt ihn?

Ich habe ihn bei der letzten Regatta gesehen.  Gritti zeigte mir ihn.

Er ist die Eins vor der Null seines Gebieters.  Wir haben Ursache, zu
glauben, dass er sich im stillen einen starken Anhang unter unseren
Gegnern zu werben und die Verstimmung, die Querinis Handel
zurueckgelassen hat, zu Gunsten seines Souveraens auszubeuten sucht.  Er
ist ungewoehnlich verschlagen.  Von den vier Beobachtern, die wir unter
den eigenen Leuten des Gesandten in unseren Sold genommen haben, hat
noch keiner die geringsten Beweise in unsere Hand geliefert.  Die
Inquisitoren setzen ihr ganzes Vertrauen in Euch.  Leonora, dass Ihr
den Schluessel zu diesem wohlverriegelten Geist finden werdet, wie es
Euch schon manchmal geglueckt ist.  Dies war nicht zu hoffen, solange
Gritti dazwischen stand.  Seine Verbannung ebnet den Weg und gibt
zugleich den Anlass einer Annaeherung an den unzugaenglichen Menschen,
dem die Freundin seines Freundes jetzt, da ihr den Verlorenen
gemeinsam betrauert, groessere Teilnahme einfloessen muss als frueher.  Das
uebrige ueberlasse ich der Macht Eurer Reize, die niemals
unwiderstehlicher waren, als wo sie auf Widerstand stiessen.

Sie ueberlegte eine Weile.  Ihre Stirn hellte sich auf, ihre Augen
gewannen einen kuehnen, stolzen Ausdruck, ihr schoener voller Mund
oeffnete sich halb und ein nachdenkliches Laecheln irrte ueber die Lippen.
Ihr versprecht, sagte sie endlich, dass Gritti sofort zurueckgerufen
wird, sobald ich den anderen Euch ueberliefert habe?

Wir versprechen es.

So soll es nicht lange dauern, bis ich Euch an die Erfuellung Eures
Wortes mahne.  Sie stand auf und warf das Tuch fort, das sie ueber Tag
nass geweint hatte.  Andrea konnte aus seinem Versteck ihren Gang das
Zimmer auf und ab nur eine Strecke weit verfolgen, da die Spalte zu
schmal war, um den ganzen Raum zu uebersehen.  Er bewunderte die
koenigliche Haltung der Gestalt, waehrend sie, wie in Gedanken an neue
Siege, langsam ueber den Teppich des Gemaches hinwandelte, das Auge
gross aufgeschlagen, das Haar zurueckschuettelnd von den weissen Schlaefen.
Es durchzuckte ihn seltsam, als ihr Blick, der gegenstandslos in der
Hoehe herumschweifte, an ihm vorueberglitt.  Unwillkuerlich fuhr er
zusammen, als waere es moeglich gewesen, dass sie ihn entdeckte.

Der Mann im Lehnstuhl unten stand auf, schien aber seinerseits blind
fuer ihren Zauber, denn im ruhigsten Geschaeftston fuhr er fort: Der
Nuntius ist in der letzten Zeit seltener in Euer Haus gekommen.  Ihr
waret zu offen mit Euren weltlichen Neigungen, besonders das Spiel hat
sich hier zu breit gemacht.  Es waere uns lieb, wenn Ihr wieder einige
geistliche Beduerfnisse empfaendet und den regen Verkehr mit der Eminenz
von neuem anknuepftet.  Die Beziehungen der Papalisten zu Frankreich
werden seit einiger Zeit beunruhigend.

Ihr koennt auf mich rechnen, erwiderte sie.

Noch eins, Leonora.  Die Summe, die wir Euch noch schulden fuer das
Abendessen des Candiano...

Sie stand wie von einer Schlange gebissen still und verfaerbte sich
ploetzlich.  Bei allen Heiligen, sagte sie, schweigt davon, erwaehnt es
nie wieder, und den Rest des Geldes gebt an die Kirche, dass Sie Messen
lese fuer seine Seele und--fuer meine.  Wenn der Name genannt wird, ist
mir's jedesmal wie eine Posaune des juengsten Gerichtes.

Ihr seid ein Kind, sagte der andere.  Die Verantwortlichkeit fuer jenes
Nachtmahl gehoert uns, nicht Euch.  Er war ein Verbrecher, und nur
seine Verbindungen und sein Ansehen machten es uns zur Pflicht, die
Strafe geheim zu vollziehen.  Er ist ruhig in seinem Bett gestorben,
und niemand hat je sagen koennen, dass er aus Eurem Hause den Tod
davongetragen habe.  Oder ist Euch dergleichen zu Ohren gekommen?

Sie zitterte und sah zu Boden.  Nein, sagte sie.  Aber in der Nacht
wache ich auf von einer Stimme, die es mir zuraunt.  O!  Nur das haette
ich nicht tun sollen, nur das nicht!

Es ist eine Anwandlung, Leonora; Ihr werdet sie besiegen.  Das
Geld--wie ich Euch noch sagen wollte--liegt bei Marchesi fuer Euch
bereit.  Gute Nacht, Graefin.  Ich sehe, dass ich Euch lange aufgehalten
habe.  Schlaft wohl und lasst morgen die Sonne Eurer Schoenheit
unbewoelkt aufgehen ueber Gerechten und Ungerechten.  Gute Nacht,
Leonora!

Er verbeugte sich leicht vor ihr und ging auf die Tuer zu.  Nur
fluechtig konnte Andrea im letzten Moment seine Zuege sehen.  Sie waren
kalt, aber nicht hart, ein Gesicht ohne Seele und Leidenschaften, nur
der Ausdruck eines maechtigen Willens herrschte auf Stirn und Brauen.
Er band eine Maske vor und warf den schwarzen Mantel, den er am
Eingange abgelegt hatte, um die Schulter.  Dann verliess er, ohne ihren
Abschied abzuwarten, das Gemach.

In demselben Augenblick hoerte Andrea die Stimme des Maedchens unten im
Saal, die ihn leise herunterrief.  Er gehorchte, nachdem er einen
letzten Blick auf das schoene Weib geworfen, das immer noch regungslos
mitten im Zimmer stand und dem Fortgegangenen tiefsinnig nachsah.  Wie
ein vom Schlage Getroffener stieg er schwankend von der Estrade herab
und folgte, ohne ein Wort zu sprechen, dem voranhuschenden Maedchen.
In ihrer Kammer brannte wieder Licht, der Wein stand noch auf dem
Tischchen am Fenster und nichts schien die Fortsetzung des
unterbrochenen Spiels zu hindern.  Aber auf dem Gesicht des Mannes lag
ein unheimlicher Schatten, der selbst den Leichtsinn Smeraldinas
verschuechterte und sie von dieser Nacht nichts mehr hoffen liess.

Ihr seht aus, sagte sie, als haettet Ihr Gespenster gesehen.  Kommt,
trinkt ein Glas Wein und erzaehlt mir, was es gab.  Es lief ja ruhiger
ab als wir fuerchteten.

O gewiss, sagte er mit erzwungener Kaelte.  Man will deiner Herrin sehr
wohl, und es ist sogar Aussicht, dass du deinen rueckstaendigen Lohn
naechstens ausbezahlt erhaeltst.  Im uebrigen sprachen sie so leise, dass
ich wenig verstand, und jetzt bin ich vor allen Dingen todmuede von dem
unbequemen Knieen auf den harten Brettern.  Naechstens tue ich deinem
Wein eine bessere Ehre an, gutes Kind.  Aber heute muss ich schlafen.

Ihr habt mir noch nicht einmal gesagt, ob Ihr sie so schoen findet wie
die anderen Leute, sagte das Maedchen und versuchte zu schmollen ueber
ihren undankbaren, einsilbigen Freund.

Schoen wie ein Engel oder eine Teufelin, murmelte er zwischen den
Zaehnen.  Ich danke dir, Madamigella, dass du mir dazu verholfen hast,
sie zu sehen.  Ein anderes Mal bleibe ich fein bei dir, da ich heute
meine Neugier hinlaenglich gebuesst habe.  Gute Nacht!

Er schwang sich auf den Sims und betrat das Brett, das sie missmutig
wieder ueber den Abgrund geschoben hatte.  Als er droben stand, sah er
den Kanal hinunter, in dessen Tiefe eben das Licht der Gondel
verschwand.  Gute Nacht! rief er noch einmal zurueck und stieg dann
vorsichtig in sein Zimmer hinunter, waehrend Smeraldina die Bruecke
abbrach und sich vergebens bemuehte, das seltsame Betragen des Fremden,
seine Armut, seine Freigebigkeit, sein graues Haar und seine
Abenteuersucht miteinander zu reimen.

Eine Woche verging, ohne dass die Eroberung, die Smeraldina an ihrem
Nachbar gemacht zu haben glaubte, sich sonderlich befestigte.  Nur
einmal liess sie ihn, nachdem sie den Pfoertner auf ihre Seite gebracht
hatte, bei Nacht in der Maske zur Tuer herein, fuehrte ihn nach dem
Wasserpfoertchen und bestieg mit ihm die Gondel, die er selbst mit
langsamen Ruderstoessen durch das dunkle Labyrinth hindurchtrieb, um
endlich auf dem grossen Kanal eine Stunde lang im Freien hinzugleiten.
Er war trotz der guten Gelegenheit auch diesmal nicht eben zaertlicher
Laune, waehrend sie bestaendig schwatzte und durch Erzaehlungen aus der
grossen Welt, in der die Graefin ihre Rolle spielte, ihn zu belustigen
suchte.  Er erfuhr, dass seit wenigen Tagen der oesterreichische
Gesandtschaftssekretaer lange Besuche bei ihrer Herrin zu machen pflege,
wo beide ohne Zweifel sich berieten, wie es anzufangen sei, dass die
Verbannung des jungen Gritti zurueckgenommen wuerde.  Die Graefin sei
besserer Laune als je und habe sie reich beschenkt.  Andrea schien
dies alles nur mit halbem Ohr zu vernehmen und sich einzig der Lenkung
der Gondel zu widmen.  Es war also dem Maedchen selbst nicht unlieb,
als ihr schweigsamer Gefaehrte umwendete und auf dem kuerzesten Wege
nach Hause fuhr.  Geraeuschlos trieb er das schmale Fahrzeug nahe an
den Pfahl heran, legte, nachdem sie ausgestiegen waren, die Kette
herum und bat sich den Schluessel aus, um sie festzuschliessen.  Sie gab
ihn und war schon in der Tuer, als er ihr nachrief, dass ihm in der Hast
der kleine Schluessel aus der Hand geglitten und in den Kanal gefallen
sei.  Es war ihr selbst verdriesslich; aber mit ihrer gewoehnlichen
Leichtherzigkeit troestete sie ihren Freund, dass wohl noch ein zweiter
Schluessel sich im Hause finden werde, und er konnte diesmal nicht
umhin, mit einem fluechtigen Kuss auf ihre Wange Abschied zu nehmen, als
sie ihn um Mitternacht durch die Hauptpforte des Palastes entliess.

Seiner Wirtin, der Frau Giovanna, sagte er am anderen Morgen, dass es
viel Arbeit bei seinem Brotherrn gegeben habe, so dass man die Nacht
haette zu Hilfe nehmen muessen.  Dies war das einzige Mal, dass er den
Hausschluessel brauchte.  Gewoehnlich kam er schon gegen die Daemmerung
heim, genoss nur Brot und Wein und loeschte frueh das Licht, so dass die
gute Frau ihn in der Nachbarschaft als ein Muster des Fleisses und
unstraeflichen Wandels pries.  Nur das eine beklagte sie, dass er sich
nicht schone und bei seinen Jahren gar kein erlaubtes Vergnuegen
geniesse, wodurch er sich aufheitern und sein Leben verlaengern wuerde.
Marietta war bei solchen Reden still und sah in ihren Schoss.  Sie sang
nicht mehr, sobald der Fremde in seinem Zimmer war, und schien
ueberhaupt, seitdem er gekommen, sich mehr Gedanken gemacht zu haben
als sonst in einem Jahre.

Am Morgen des zweiten Sonntags, den Andrea im Hause der Witwe erlebte,
trat die Frau hastig mit verstoertem Gesicht und in vollem Staat, wie
sie aus der Messe zurueckkehrte, in sein Zimmer.  Er sass am Tisch, noch
nicht voellig angekleidet, und las in einem seiner Gebetbuecher.  Sein
Gesicht war bleicher als sonst, aber sein Blick ruhig, und es schien,
als ob er ungern in seiner Andacht gestoert wuerde.

Sitzt Ihr noch still im Zimmer, Herr Andrea, rief sie ihm entgegen,
und ganz Venedig ist auf den Beinen?  Eilt und kleidet Euch an und
geht selbst auf die Strasse hinaus, wo Ihr so viel entsetzte
Menschengesichter sehen koennt wie Koerner in der Muehle.  Heiliger Jesus!
dass ich das noch erleben muss, und dachte, es koenne nichts mehr in
Venedig geschehen, worueber ich staunte!

Wovon redet Ihr, gute Frau? fragte er mit gleichgueltigem Ton und legte
das Buch aus der Hand.

Sie warf sich auf einen Stuhl und schien sehr erschoepft.  Bis an die
Piazetta bin ich fortgeschoben worden, fing sie wieder an, und sah die
Herren vom Grossen Rat zu Haufen die Riesentreppe im Hofe des
Dogenpalastes hinaufsteigen und die Trauerfahne wehen aus dem Fenster
der Prokurazien.  Werdet Ihr es glauben?  Heute nacht zwischen Elf und
Mitternacht hat man den Vornehmsten von den drei Staatsinquisitoren,
den edeln Herrn Lorenzo Venier, auf der Schwelle seines Hauses
ermordet.

War es schon ein alter Mann? fragte Andrea ruhig.

Misericordia!  Wie Ihr auch sprecht!  Als waere er nur in seinem Bett
gestorben.  Aber Ihr seid freilich kein Venezianer und koennt es nicht
verstehen, was es heisst: ein Inquisitor ermordet, einer vom Tribunal.
Es ist mehr als wenn es ein Doge waere, von denen mancher nicht mit
rechten Dingen um sich kam, denn das Tribunal hat die Macht und der
Doge das Kleid.  Was aber das entsetzlichste ist: auf dem Dolch, den
sie in der Wunde gefunden haben, steht eingegraben: "Tod allen
Inquisitoren"; allen! versteht ihr wohl, Herr Andrea?  Das ist nicht
wie wenn ein Wicht von einem Bravo gedungen wird, einen einzelnen aus
der Luft zu schaffen, weil er einem anderen im Wege steht bei
Liebschaft, Aemtern oder sonst.  Das ist ein politischer Mord, sagte
mein Nachbar, der Spezial, und dahinter steckt eine Verschwoerung und
Helfershelfer und der Angelo Querini mit seinem Anhang.  Er rieb sich
die Haende, als er das sagte, aber mir zitterte das Herz im Leibe, denn
ich will nicht sagen, was ich denke, aber ich weiss, mit der boesen Tat
ist's wie mit den Kirschen, schuettelt man eine herunter, so fallen
zwanzig nach, und dieses Blut wird viel Blut kosten.

Hat man denn keine Spur des Moerders, Frau Giovanna?  Wozu nuetzen dem
Tribunal die Hunderte von Spionen, die es bezahlt?

Nicht den Schatten einer Spur, antwortete die Witwe.  Es war eine
dunkle Nacht, die Bora wehte, und auf dem grossen Kanal, an dem sein
Palast steht, war es leer von Gondeln.  Da kam er allein durch eine
Seitengasse nach Hause, und da traf ihn die unsichtbare Hand, und er
lebte nur so lange, bis er mit seinem letzten Stoehnen den Pfoertner
herausgeschreckt hatte.  Da war die Gasse totenstill und niemand zu
erblicken.  Ich aber weiss, was ich weiss, Herr Andrea.  Soll ich es
Euch sagen?  Ihr seid rechtschaffen und brav und werdet es nirgend
weiter umhersagen und mich nicht in neues Elend bringen: Ich kenne die
Hand, die dieses Blut vergoss.

Er sah sie fest an.  Redet, sagte er, wenn es Euch erleichtert.  Ich
verrate Euch nicht.

Habt ihr keine Ahnung? sagte sie, indem sie aufstand und dicht neben
ihn hintrat: Hab' ich Euch nicht gesagt, dass mancher lebt und nicht
wiederkommt, und mancher tot ist und doch wiederkommt?  Wisst ihr's
nun?  Er hat es ihnen nicht vergessen, dass sie sein Weib und Kind
unter die Bleidaecher geschleppt und gemartert haben.  Aber, um Gottes
willen, kein Wort davon ueber Eure Lippen!  Wenn es sein Geist getan
haette, die Lebendigen muessten es buessen.

Und was habt Ihr fuer Anlass zu Eurem Glauben?

Sie sah sich im Zimmer unheimlich um.  Wisst, fluesterte sie, es war
nicht geheuer im Haus diese Nacht.  An den Waenden hoert' ich es hinauf-
und hinabhuschen, wie Gespensterschritte, ich lag im Bett und horchte,
und es rauschte da unten heimlich ueber den Kanal und klirrte an Eurem
Fenster, und durch das Gaesschen nebenan schwirrte es von
aufgescheuchtem Getier bis lange nach Mitternacht.  Erst mit dem
Glockenschlage eins ward Ruhe; ich weiss wohl, wer sie gestoert hat.  Er
kam, nachdem er es getan, um uns zu gruessen, da wir ja keinen Abschied
genommen haben.

Das Haupt war ihm auf die Brust gesunken.  Jetzt stand er auf und
sagte, dass er selbst ausgehen wolle, um sich zu erkundigen.  Er habe,
wie sie ja wisse, sich frueh niedergelegt und besonders fest geschlafen,
so dass er von allem Spuk nicht gestoert worden sei.  Uebrigens moege
sie es fuer sich behalten, denn allerdings sei es gefaehrlich, von einem
solchen Verbrechen auch nur eine gespenstische Mitwissenschaft
erhalten zu haben.--Darauf zog er sich eilig an und ging in die Stadt
hinaus.

Es war ein Wogen und Treiben auf den Gassen, wie man es selbst bei
hohen Festen der Republik nicht gewohnt war.  Lautlos bewegten sich
aus der inneren Stadt hastige Zuege von Neugierigen durch die engen
Strassen fort nach dem Markusplatze zu, und wer sich nicht anschloss,
stand wenigstens draussen an der Tuer seines Hauses und wechselte mit
vorbeieilenden Bekannten beredte Zeichen und Blicke.  Man sah es
diesen Menschen an, dass etwas Unerhoertes und Furchtbares sie zugleich
aufgeregt und betaeubt hatte, dass sie alle planlos dem allgemeinen Zuge
folgten, begierig, das Ereignis vor allem mit Augen zu sehen und mit
Haenden zu greifen.  Niemand redete laut, niemand lachte, pfiff oder
seufzte auch nur vernehmlich; es war, als fuehlten diese ehrsamen
Buerger die Pfaehle wanken, auf denen die Lagunenstadt gegruendet ward.

In scheinbar nachlaessiger Haltung schritt Andrea unter dem Volk hin,
den Hut tief ueber die Augen gedrueckt, die Haende auf den Ruecken gelegt.
Nun trat er auf den Markusplatz hinaus, wo in unzaehligen Gruppen alle
Staende durcheinander gemischt unter dem reinen Sommerhimmel sich
geschart hatten, waehrend unter den Hallen der Prokurazien der Strom
weiterfloss, der Piazetta zu, bis draussen an das breite Becken des
Kanals, das von den beiden Saeulen beherrscht wird.  Der alte
Dogenpalast stieg majestaetisch ueber dem Gewuehl empor.  Man sah hinter
den Bogenfenstern und in den Arkaden Waffen blinken, und ein Trupp
Soldaten hatte am Eingang Posto gefasst, Spalier bildend und jedem die
Wehr vorhaltend, der, ohne zum Grossen Rat zu gehoeren, in das Innere
Einlass suchte.  Denn oben in der weiten Halle, deren Waende mit den
Grosstaten der Republik ausgemalt sind, sass die Bluete des Adels in
geheimer Beratung beisammen, und die Menge, die unten scheu vor den
schweren Pfeilern des alten Baues vorueberwallte, schien ungeduldig das
Ergebnis dieser Sitzung abzuwarten; so oft ein Nobile sich am Fenster
blicken liess, entstand ein Murmeln und Deuten und Hinaufstarren, als
werde jeden Augenblick das Urteil ueber den unentdeckten Frevler vom
Balkon herab verkuendigt werden.  Auch Andrea, der das lange Viereck
des Platzes einsam durchmessen hatte, naeherte sich jetzt dem
Dogenpalast und warf im Vorbeigehen einen Blick in die Kirche von San
Marco, wo er Kopf an Kopf bis zu den Pforten hinaus die Menschen
stehen und der Predigt lauschen sah.  Dann bahnte er sich muehsam einen
Weg nach den beiden Saeulen und stand in duesteren Gedanken am Kai der
Piazetta, vor sich die wimmelnde Menge der schwarzen Gondeln, deren
staehlerne, gezahnte Schnaebel bei jeder Wendung ihre Sonnenblitze ueber
die Wellen warfen.  Auch die Riva degli Schiavoni, die zu seiner
Linken lag, war dicht gedraengt von erwartungsvollen Menschen.  Ueber
dem Turban des Tuerken tauchte der rote griechische Fes, die malerische
Muetze der Schiffer von Chioggia, der dreieckige Hut und die gepuderte
Peruecke auf, und man hoerte gleicher Weise die verschiedensten Zungen
durcheinander schwirren, waehrend vom Wasser herauf die eintoenigen
Anrufe der Gondoliere auch dem Blinden sagten, dass der grosse Kanal
Venedigs zu seinen Fuessen floss.

Eine offene Gondel, von zwei Dienern in reicher goldgestickter Livree
gerudert, flog vorueber; eine Dame lag nachlaessig auf den breiten
Polstern, das Haupt in die Hand gestuetzt.  Das Feuer eines grossen
Diamantringes spielte aus dem roetlichen Glanz ihrer Haare hervor; ihre
Augen ruhten auf dem Gesicht eines jungen Mannes, der ihr gegenueber
sass und eifrig zu ihr sprach.  Sie hob jetzt den Kopf und musterte mit
einem stolzen Blick das Menschengewoge droben auf der Piazetta.  Das
ist die blonde Graefin, hoerte Andrea im Volke sagen; er hatte sie
laengst erkannt.  Zusammenfahrend, wie wenn schon ihr Anblick Verderben
braechte, wandte er sich ab.  Da sah er in ein bekanntes Gesicht, das
ihm vertraulich zunickte.  Samuele stand hinter ihm.

Seid ihr auch einmal unter Menschen, Herr Delfin? raunte ihm der Jude
mit seiner duennen Stimme zu.  Vergebens habe ich Euer Gnaden all die
Tage her wieder zu begegnen gesucht.  Ihr lebt eingezogener, als eine
Frau in den Wochen.  Wenn ihr wollt mitgehen, wohin mich meine
Geschaefte rufen, so haett' ich Euch zu sagen, was Ihr vielleicht gern
hoert.  Kommt!  Was steht Ihr hier, wie die anderen Narren, die da
glauben, im Grossen Rat wuerde das Heil der Republik zur Welt gebracht?
Die Ratten im Schiff machen es nicht flott, wenn es aufgefahren ist.
Die wahren Lotsen haben jetzt besseres zu tun, als zu schwatzen.  Aber
gehen wir von hier fort, ich habe Eile, und in der Gondel reden wir
bequemer.

Er winkte eine von den Mietgondeln heran und zog Andrea am Arm sich
nach.  Sie stiegen ein und setzten sich unter das schwarze Dach, links
und rechts durch die Oeffnungen der engen Kajuete den Kanal ueberblickend.
Was habt Ihr mir zu sagen, Herr? begann Andrea.  Und wohin fuehrt Ihr
mich?  Geht morgen frueh nicht zu Eurem Notar, sagte der Jude.  Es waere
moeglich, dass Ihr zu einem Gang abgeholt wuerdet, der Euch mehr eintruege.

Was meint Ihr, Samuele?

Ihr wisst, was die Nacht geschehen ist, fuhr der andere fort.  Es ist
unerhoert, dass zwoelf Stunden nach einem Mord in Venedig vergehen und
noch keine Spur gefunden ist, wer ihn begangen hat.  Wir sind um
unseren Kredit gekommen bei der Signoria, beim Volk, bei den Fremden,
die von der Polizei hier zu Lande Wunder geglaubt und Zeichen erwartet
haben.  Der Rat der Zehn findet, dass er schlecht bedient wird.  Er
wird sich nach neuen Augen umtun, die besser in alle Winkel dringen.
Eure Augen, Herr Delfin, moechten, wenn Ihr noch denkt wie vor zehn
Tagen, bald eine feinere Schrift zu lesen bekommen, als die Akten
Eures Herrn Notars.  Darum haltet Euch zu Haus morgen frueh.  Wenn es
was ist und ich kann ein Wort fuer Euch anbringen, soll es mich freuen.

Mein Sinn ist noch nicht veraendert; aber fast zweifle ich an meinen
Faehigkeiten.

Husch, husch! sagte der andere und schuettelte den Zeigefinger.  Ich
muesste Gesichter nicht kennen, oder Ihr habt Eures in Eurer Gewalt, und
wer verbergen kann, was er denkt, hat schon halb erraten, was fuer
Gedanken andere zu verbergen suchen.

Und wer entscheidet, ob man mich brauchen kann oder nicht?

Ihr muesst Euch pruefen lassen vor dem Tribunal; ich kann nichts tun, als
sagen, dass ich Euch kenne und Euch Talente zutraue.  Bis morgen, denk'
ich, wird das Tribunal vollzaehlig sein; die Zehn sitzen eben zusammen
und waehlen den dritten Mann.  Ich kann sagen, dass man mir geben koennte
viel Geld, dass ich sollte Staatsinquisitor werden--ich dankte fuer die
Ehre.  Denn die Inschrift auf dem Dolch ist nicht so fuer die
Langeweile eingraviert, und der Soldat auf der Pulvermine isst sein
Brot ruhiger als einer der drei Herren Venedigs seit gestern nacht.

Dennoch ist wohl kein Zweifel, dass der Erwaehlte das Amt antritt?  Oder
darf er ablehnen?

Ablehnen!  Wisst Ihr nicht, dass die Republik jeden schwer bestraft, der
sich einem Amt entzieht?

Andrea schwieg und sah finster durch die Luke auf die Flaeche des
Kanals.  Eine unabsehliche Menge schwarzer Gondeln fuhr in derselben
Richtung zwischen den hohen Palaesten hin, und vom Rialto her kam eine
nicht geringere Zahl ihnen entgegen.  Beide Zuege trafen jetzt
aufeinander und draengten sich um eine breite Wassertreppe, wo sie um
die Wette anfuhren und ihre Herrschaften landeten.  Es war der Palast
Venier, und droben lag der Tote.

Ein Blick zeigte Andrea, wo sie waren.  Gewaltsam beherrschte er seine
Bewegung und sagte: Habt Ihr hier zu tun, Samuele, oder ist es bloss
die Neugier, einen ermordeten Staatsinquisitor auf dem Paradebett zu
sehen?

Ich bin im Dienst, erwiderte der Jude.  Aber auch Euch kann es
nuetzlich sein, mitzugehen.  Ich werde Euch mit einigen meiner Freunde
bekannt machen, denn der Zehnte hier weiss, was er sucht.  Aber wir tun,
als kennten wir uns nicht.  Wisst Ihr, dass ich wetten moechte, von den
Verschworenen seien nicht wenige unter diesen Beileidsgesichtern?  Wer
weiss, ob der Taeter nicht selbst eben aus einer dieser Gondeln steigt!
Er waere nicht dumm, wenn er sich hier sicherer glaubte, als irgend wo
sonst.  Denn zu dieser Stunde, kann ich Euch sagen, durchsucht die
Polizei, waehrend alles im Freien ist, die Haeuser, die ihr jemals
verdaechtig waren, und das Sprichwort ist wahr: Der Teufel lehrt es zu
tun, aber nicht, es zu verbergen.

Mit diesen Worten sprang er aus der Gondel und half Andrea
dienstfertig aussteigen.  Ist es Euch unheimlich, einen Toten zu
sehen? fragte er.  Ihr seid nicht wohl aufgelegt.

Ihr irrt, Samuele, antwortete Andrea rasch und sah ihm gleichmuetig ins
Gesicht.  Ich bin Euch vielmehr dankbar, dass Ihr meiner Traegheit zu
Hilfe gekommen seid.  Ohne Euch waere ich schwerlich hier.  Lasst uns
hinaufgehen, um dem grossen Herrn, der uns im Leben schwerlich
vorgelassen haette, unseren Besuch zu machen.  Eine stattliche Wohnung,
die er so hastig mit einem engen Kaemmerchen vertauschen muss!  Er tut
mir leid, in der Tat, obwohl ich ihn nie mit Augen gesehen habe.

Sie stiegen unter einem grossen Andrang nebeneinander die
schwarzverhangene Treppe hinauf, von deren Hoehe das umflorte Wappen
des Hauses Venier heruntersah und statt jedes Pfoertners der Menge
Stille gebot.  Drinnen in dem groessten Saal war der Katafalk unter
einem Baldachin errichtet, Zypressenbaeume ragten bis an die hohe Decke,
Kerzen auf silbernen Kandelabern flackerten im Luftzug, der ueber den
offenen Balkon vom Wasser herauf durch die Halle strich, und vier
Diener des Hauses Venier in schwarzem Samt, die blanken Hellebarden
mit Floeren umwickelt, hielten wie Standbilder an den Ecken des
Totengeruestes die Wache.  Ueber den Leichnam war eine samtene Decke
gebreitet; die silbernen Fransen hingen bis auf den Boden herab.  Der
Tote zeigte den Eintretenden das scharfe Profil, mit einem zornigen
und traurigen Ausdruck das geschlossene Auge gegen den Baldachin
gekehrt.  Andrea erkannte diese Zuege wieder.  Er hatte sie im Zimmer
Leonoras in jener Nacht sich tief ins Gedaechtnis gepraegt.  Aber kein
Zucken seines Mundes noch der Augen, die scharf auf den Toten
gerichtet waren, verriet, dass der Raecher vor seinem Opfer stand.-Eine
Stunde spaeter kam Andrea nach Hause.  Frau Giovanna empfing ihn oben
an der Treppe mit einer fast muetterlichen Sorge, und auch Marietta
schien unruhig auf ihn gewartet zu haben.  Sie erzaehlten ihm, dass die
Sbirren in seiner Abwesenheit sein Zimmer durchsucht, aber alles in
bester Ordnung gefunden haetten, uebereinstimmend mit dem Zeugnis,
welches sie selbst, die Wirtin, ihrem Mieter ausgestellt habe.  Die
ruhige Art, in der Andrea ihre Erzaehlung anhoerte, versicherte sie
vollends, dass ihre Angst ueberfluessig und der Besuch der Polizei mehr
eine Sache der Form gewesen sei.  Eine Menge Warnungen und
Vorsichtsmassregeln legte die gute Frau ihm ans Herz, wie er sich in
dieser boesen Zeit mit Reden und Handlungen vor jedem Verdacht zu
schuetzen habe.  Sie werden das Regiment noch verschaerfen, seufzte die
Alte, denn sie wissen wohl: eine Katze mit Handschuhen faengt keine
Maeuse, und das ist auch ein wahres Wort, dass die Toten den Lebenden
die Augen oeffnen.  Darum seid auf Eurer Hut, teurer Herr, und traut
niemand, der sich an Euch macht.  Ihr kennt die schlimmen Gesellen
noch nicht, wie gutmuetig sie sich zu stellen wissen, aber glaubt mir:
man wird nur von dem betrogen, dem man traut.  Geht lieber nicht zu
Tisch in einem Gasthaus, sondern lasst Euch gefallen, dass wir Euch zu
Hause auftragen, was wir vermoegen.  Ihr seht angegriffen aus.  Legt
Euch ein wenig aufs Bett; Ihr seid das Herumlaufen nicht gewohnt.

Alle diese Reden begleitete Marietta mit bittenden Blicken und sah,
neben der Mutter stehend, unverwandt in sein blasses, ernstes Gesicht.
Er versicherte, dass ihm wohl sei, bat um Brot und Wein und kam,
nachdem man es ihm gebracht hatte, den Rest des Tages nicht wieder zum
Vorschein.

Frueh am anderen Morgen, als er noch im Bette lag, trat Samuele bei ihm
ein.  Wenn Euch darum zu tun ist, sagte er, zum mindesten vierzehn
Dukaten monatlich in die Tasche zu stecken, so kommt mit mir; es ist
alles eingeleitet, und ich denke, Ihr macht den Gang nicht umsonst.

Ist der neue Staatsinquisitor schon gewaehlt? fragte Andrea.

Es scheint so.

Und noch keine Spur von der Verschwoerung?

Noch keine Spur.  Der Schrecken unter dem Adel ist gross.  Sie
verschliessen sich in ihren Haeusern und sehen in jedem Besucher einen
Spion der Zehn oder des Tribunals.  Einer nach dem anderen von den
fremden Gesandten hat dem Dogen seine Aufwartung gemacht, die
feierlichsten Versicherungen seiner Empoerung ueber die Tat abgelegt und
seine Hilfe zur Entdeckung des Taeters angeboten.  Von nun an werden
die drei vom Tribunal sich noch geheimer halten als zuvor, und, wie
ich glaube, soll ein Preis auf den Kopf des Moerders gesetzt werden,
der einen armen Teufel schon fuer einige Jahre flott machen wuerde.  Die
Augen auf, Herr Andrea!  Wir beide trinken vielleicht bald einen
besseren Wein zusammen, als damals in jener Kneipe!

Schweigend hatte sich Andrea angezogen und folgte nun seinem Goenner,
der bestaendig plauderte, nach dem Dogenpalast.  Samuele war hier gut
bekannt.  Er klopfte an eine unscheinbare Tuer im Hof, sagte dem Diener,
der oeffnete, ein Wort ins Ohr und liess Andrea auf einer kleinen
Treppe hoeflich den Vortritt.  Nachdem sie droben einen langen,
helldunkeln Gang durchschritten und einigen Hellebardieren Rede
gestanden hatten, wurden sie in ein nicht gar grosses Gemach
eingelassen, dessen Fenster nach dem Hofe ging und mit einer dunkeln
Gardine zur Haelfte verhangen war.  Im Hintergrunde gingen drei Maenner
in fluesterndem Gespraech auf und ab, die Gesichter mit Masken bedeckt,
unter denen nur die Spitzen der Baerte hervorsahen.  Ein vierter,
unmaskiert, sass an einem Tisch und schrieb beim Schein einer einzelnen
Kerze.

Er sah auf, als Samuele mit Andrea auf der Schwelle erschien.  Die
drei anderen schienen die Hereintretenden nicht zu beachten, sondern
ihr Gespraech eifrig fortzusetzen.

Ihr bringt den Fremden, den Ihr uns angekuendigt habt? fragte der
Sekretaer.

Ja, Euer Gnaden.

Ihr koennt abtreten Samuele.

Der Jude verneigte sich gehorsam und verliess das Zimmer.

Nach einer Pause, in welcher der Sekretaer des Tribunals einige Papiere,
die vor ihm lagen, ueberflogen und dann mit einem langen Blick die
Gestalt des Fremden geprueft hatte, sagte er: Euer Name ist Andrea
Delfin; seid Ihr mit den venezianischen Nobili gleichen Namens
verwandt?

Nicht dass ich wuesste.  Meine Familie ist seit Urzeiten in Brescia
ansaessig.

Ihr wohnt in der Calle della Cortesia bei Giovanna Danieli; Ihr
wuenscht in den Dienst des erlauchten Rates der Zehn zu treten.

Ich wuensche der Republik meine Dienste zu widmen.

Eure Papiere aus Brescia sind in Ordnung.  Der Advokat, bei dem Ihr
fuenf Jahre gearbeitet habt, gibt Euch das Zeugnis eines verstaendigen
und zuverlaessigen Mannes.  Nur ueber die sechs oder sieben Jahre, bevor
Ihr zu ihm kamt, fehlt ein jeder Ausweis.  Was habt Ihr, nachdem Eure
Eltern gestorben waren, in der langen Zeit getrieben?  Ihr habt sie
nicht in Brescia zugebracht?

Nein, Euer Gnaden, erwiderte Andrea ruhig.  Ich war in fremden Laendern,
in Frankreich, Holland und Spanien.  Nachdem ich mein geringes Erbe
aufgezehrt hatte, musste ich mich bequemen, Bedienter zu werden.

Eure Zeugnisse?

Sie sind mir entwendet worden in einem Koffer, der meine ganze Habe
enthielt.  Ich war dann des unsicheren Reiselebens muede und ging nach
Brescia zurueck.  Meine Herrschaften hatten mich zu mancherlei
Sekretaerdiensten brauchbar gefunden.  Ich versuchte es bei einem
Advocaten, und Euer Gnaden haben das Zeugnis selbst vor sich, dass ich
zu arbeiten gelernt habe.

Waehrend er dies sagte, in einer stillen, unterwuerfigen Haltung, den
Kopf etwas vorgebeugt und den Hut in beiden Haenden, trat ploetzlich
einer der drei Herren in der Maske naeher an den Tisch heran, und
Andrea fuehlte einen durchdringenden Blick auf sich gerichtet.

Wie heisst Ihr? fragte der Inquisitor mit einer Stimme, die ein hohes
Alter verriet.

Andrea Delfin.  Meine Papiere weisen es aus.

Bedenkt, dass es Euer Tod ist, wenn Ihr das erlauchte Tribunal
hintergeht.  Erwaegt die Antwort noch einmal.  Wenn ich nun sage, dass
Euer Name Candiano sei?

Eine kurze Pause folgte auf dieses Wort, man hoerte den Totenwurm im
Gebaelk des Zimmers bohren.  Acht forschende Augen waren auf den
Fremden geheftet.

Candiano? sagte er langsam, doch mit fester Stimme.  Warum soll ich
Candiano heissen?  Ich wollt' es wahrlich selbst; denn soviel ich weiss,
ist das Haus Candiano reich und vornehm, und wer diesen Namen traegt,
braucht nicht sein Brot muehsam mit der Feder zu verdienen.

Ihr habt das Gesicht eines Candiano.  Euer Betragen ueberdies verraet
eine bessere Herkunft, als diese Papiere anzeigen.

Ich kann nichts fuer mein Gesicht, erlauchte Herren, erwiderte Andrea
mit anstaendiger Unbefangenheit.  Was mein Betragen angeht, so habe ich
auf Reisen allerlei Sitten gesehen und die meinigen, soviel ich konnte,
verbessert, auch meine Zeit in Brescia nicht verloren, sondern aus
Buechern die Versaeumnisse meiner Jugend nachgeholt.

Die beiden anderen Inquisitoren waren indes jenem ersten naeher
getreten, und der eine, dessen roter Bart sich breit unter der Maske
vorschob, sagte halblaut: Eine Aehnlichkeit mag Euch taeuschen, die ich
nicht wegleugnen will.  Aber Ihr wisst selbst: der Zweig des Hauses,
der bei Marano angesiedelt war, ist ausgestorben; der Alte ist in Rom
begraben, die Soehne ueberlebten ihn nicht lange.

Mag sein, erwiderte der erste.  Aber seht ihn an und sagt, ob es nicht
ist, als waere der alte Luigi Candiano, nur verjuengt, aus dem Grabe
erstanden.  Ich hab ihn gut genug gekannt; wir wurden an demselben
Tage in den Senat gewaehlt.

Er nahm die Papiere vom Tisch und pruefte sie sorgfaeltig.  Ihr moegt
recht haben, sagte er endlich.  Es wuerde mit den Jahren nicht stimmen.
Fuer einen der Soehne Luigis ist dieser zu alt.  Wenn er ihn vor der
Ehe erzeugt haette--so wuerde es uns gleichgueltig sein koennen.

Er warf die Papiere wieder hin, gab dem Sekretaer einen Wink und trat
mit den anderen in die Fensternische zurueck, das unterbrochene
Gespraech leise fortsetzend.  Niemand konnte Andreas Augen anmerken,
welch eine Last in diesem Augenblick ihm von der Seele fiel.  Der
Sekretaer begann von neuem.  Ihr versteht fremde Sprachen? fragte er.

Ich spreche Franzoesisch und ein wenig Deutsch, Euer Gnaden.

Deutsch?  Wo habt Ihr das gelernt?

Ein deutscher Maler in Brescia war mein guter Freund.

Seid Ihr je in Triest gewesen?

Zwei Monate, Euer Gnaden, in Geschaeften meines Herrn, des Advokaten.

Der Sekretaer stand auf und trat zu den dreien am Fenster.  Nach einer
Weile kam er an den Tisch zurueck und sagte: Man wird Euch den Pass
eines oesterreichischen Untertans geben, der aus Triest gebuertig war.
Mit diesem geht Ihr in das Haus des oesterreichischen Gesandten und
bittet um seinen Schutz, da die Republik Euch auszuweisen drohe.  Ihr
werdet sagen, dass Ihr in frueher Jugend Triest verlassen habt und nach
Brescia hinuebergegangen seid.  Was auch die Antwort sein moege, dieser
Besuch wird Euch, bei einiger Geschicklichkeit, genuegen, um mit dem
Sekretaer des Gesandten Bekanntschaft zu machen.  Es ist Eure Aufgabe,
dieses Verhaeltnis fortzuspinnen und, soviel Ihr koennt, die geheimen
Verbindungen des Wiener Hofes mit den Adeligen Venedigs zu beobachten.
Entdeckt Ihr das Geringste, was Euch Verdacht einfloesst, so habt Ihr
es unverzueglich zu melden.

Wuenscht das hohe Tribunal, dass ich meine bisherige Stellung bei dem
Notar Fanfani aufgebe?

Ihr aendert nichts in Eurer Lebensweise.  Euer Gehalt betraegt fuer den
ersten Monat nur zwoelf Dukaten.  Von Eurer Geschicklichkeit und
Umsicht haengt es ab, die Summe zu verdoppeln.

Andrea verneigte sich zum Zeichen, dass er mit allem einverstanden sei.

Hier ist Euer deutscher Pass, sagte der Sekretaer.  Eure Wohnung ist dem
Palast der Graefin Amidei benachbart.  Es wird Euch ein leichtes sein,
mit ihrer Kammerfrau ein Verhaeltnis anzuknuepfen, dessen Kosten Euch
erstattet werden sollen.  Was Ihr auf diesem Wege ueber die Beziehungen
der Graefin zu vornehmen Venezianern erfahrt, berichtet Ihr an diesem
Ort.  Die Republik erwartet, dass Ihr treu und gewissenhaft Eure
Aufgabe erfuellt.  Sie verpflichtet Euch nicht durch einen Eid, weil,
wenn die Scheu vor den irdischen Strafen, die wir verhaengen, Euch
nicht in der Pflicht zurueckhielte, Ihr kein Menschenblut in den Adern
haben muesstet und also auch der himmlischen Gerechtigkeit spotten
wuerdet.  Ihr seid entlassen.

Andrea verbeugte sich wiederum und wandte sich nach der Tuer.  Der
Sekretaer rief ihn zurueck.

Noch eins, sagte er, indem er ein Kaestchen aufschloss, das auf dem
Tische stand.  Tretet heran und betrachtet den Dolch in diesem
Kaestchen.  Es sind grosse Waffenfabriken in Brescia.  Entsinnt Ihr Euch,
dort irgend eine aehnliche Arbeit gesehen zu haben?

Andrea blickte, mit letzter Kraft sich bezwingend, in den Behaelter,
den ihm der Sekretaer entgegenhielt.  Er erkannte die Waffe nur zu wohl.
Es war ein zweischneidiges Messer, der Griff, ebenfalls staehlern, in
Kreuzesform.  Auf der Klinge, vom Blut noch nicht gereinigt, standen
die Worte eingegraben: "Tod allen Staatsinquisitoren".

Nach einer laengeren Pruefung schob er mit fester Hand das Kaestchen
zurueck.  Ich entsinne mich nicht, sagte er, einen aehnlichen Dolch in
den Kauflaeden von Brescia gesehen zu haben.

Es ist gut.

Der Sekretaer verschloss das Kaestchen wieder und winkte ihm mit der Hand,
zu gehen.  Langsam schritt Andrea hinaus.  Die Hellebardiere liessen
ihn passieren; wie im Traum ging er den hallenden Korridor entlang,
und erst als er auf der dunkeln Treppe war, goennte er sich's, einen
Augenblick auf einer der Marmorstufen niederzusitzen.  Seine Kniee
drohten einzubrechen; der kalte Schweiss bedeckte seine Stirn, die
Zunge klebte ihm am Gaumen.

Als er ins Freie hinaustrat, atmete er tief auf, richtete den Kopf
mutig in die Hoehe und nahm seine entschiedene Haltung wieder an.  Am
Portal draussen, das sich nach der Piazetta oeffnet, sah er einen Haufen
Volkes dicht beisammen stehen, vertieft in die Lesung eines grossen
Anschlages, der an eine der Saeulen angeheftet war.  Er trat ebenfalls
hinzu und las, dass vom Rat der Zehn mit hoher Bewilligung des Dogen
eine Belohnung von tausend Zechinen und die Begnadigung eines
Verbannten oder Verurteilten demjenigen verheissen werde, der ueber den
Moerder Veniers Auskunft zu geben wisse.  Das Volk stroemte vor der
Saeule ab und zu, und nur einige lauernde Gesichter tauchten beharrlich
immer wieder unter den Arkaden auf und bewachten die Mienen der
Lesenden.  Auch Andrea entging ihnen nicht.  Aber mit der
Gleichgueltigkeit eines voellig unbeteiligten Fremden machte er, nachdem
er das Blatt ueberflogen, anderen Neugierigen Platz und stieg ruhig am
grossen Kanal in eine Gondel, die ihn nach dem Hotel des
oesterreichischen Gesandten bringen sollte.

Als er nach einer laengeren Fahrt vor dem ziemlich abgelegenen Palast
ausstieg, der den doppelkoepfigen Adler ueber dem Eingang trug, bewegte
gerade ein hochgewachsener junger Mann den Klopfer am Tor.  Er sah
sich nach der Gondel um, und seine ernsthaften Zuege erheiterten sich
ploetzlich.  Ser Delfin, sagte er und bot Andrea die Hand, begegnen wir
uns hier?  Kennt Ihr mich nicht mehr?  Habt Ihr den Abend am Gardasee
schon vergessen?

Ihr seid es, Baron Rosenberg! erwiderte Andrea und schuettelte herzlich
die dargebotene Rechte.  Seid Ihr fuer laengere Zeit in Venedig, oder
holt Ihr schon Euren Pass hier ab zur Weiterreise?

Der Himmel weiss, sprach der andere, wann mich mein Stern je von hier
wegfuehrt, und ob ich ihn dann willkommen heissen oder verwuenschen werde.
Um meinen Pass jedoch brauche ich niemand zu bemuehen, da ich ihn mir
selbst visieren kann.  Denn Ihr muesst wissen, werter Freund, dass Ihr
mit dem Sekretaer Seiner Exzellenz des oesterreichischen Gesandten
sprecht, was ich wahrlich nicht etwa sage, um eine diplomatische Wand
zwischen mich und meinen werten Reisegefaehrten von Riva zu schieben,
sondern in Eurem Interesse, Bester, da es nicht jedem Venezianer
erwuenscht ist, fuer einen alten Bekannten von mir zu gelten.

Ich habe nichts zu fuerchten, sagte Andrea.  Wenn ich Euch nicht laestig
bin, trete ich einen Augenblick bei Euch ein.

Ihr wolltet zu mir, ohne mich zu kennen.  Was Euch der
Gesandtschaftssekretaer zu Gefallen tun sollte, wird Euch nun der
Freund umso williger tun, falls es in seiner Macht steht.

Andrea erroetete.  Zum ersten Male empfand er jetzt alles Demuetigende
der Maske, die er trug, einem freien Manne gegenueber, der ihm nach
einer fluechtigen Begegnung vor mehreren Jahren so freundschaftlich
wieder entgegenkam.  Der Pass des Triestiners, den er in der Tasche
trug, drueckte ihn wie ein bleiernes Gewicht.  Aber die Uebung, seine
inneren Kaempfe zu beherrschen, liess ihn auch diesmal nicht im Stich.
Ich wollte nur eine Erkundigung einziehen ueber ein deutsches
Handelshaus, sagte er, denn ich bin hier in Venedig in der sehr
bescheidenen Stellung eines Schreibers, der sich von seinem Herrn
Notar zu mancherlei kleinen Diensten gebrauchen lassen muss.  Da ich
aber in Brescia nicht viel Besseres war und Ihr dennoch mich nicht zu
gering hieltet, mir Eure und Eurer Mutter Gesellschaft zu goennen, so
trete ich auch hier dreist mit Euch ein; Ihr muesst mir vor allem sagen,
wie es der trefflichen Frau ergeht, deren ehrwuerdiges Bild, ihre
ruehrende Liebe zu Euch, ihre grosse Guete gegen mich, mir noch in
lebendigster Erinnerung stehen.

Der Juengling wurde ernsthaft und seufzte.  Kommt in mein Zimmer, sagte
er.  Wir plaudern dort vertraulicher.

Andrea folgte ihm hinauf, und der erste Blick, den er in das
behagliche Gemach tat, fiel auf ein grosses Pastellbild, das ueber dem
Schreibtisch hing.  Er erkannte die leuchtenden Augen und das reiche
Haar Leonorens.  Aller verfuehrerische Schmelz der Jugend und des
Uebermutes lag auf diesen laechelnden Lippen.

Der Juengling rueckte zwei Sessel an das Fenster, durch welches man den
ziemlich breiten Kanal, die malerische Bruecke und zwischen den Haeusern
drueben die Chorseite einer alten Kirche uebersah.  Kommt, sagte er,
macht es Euch bequem.  Soll ich Wein kommen lassen oder Sorbette?
Aber ihr hoert nicht.  Ihr seid in dieses unglueckselige Bild vertieft.
Wisst Ihr, wen es vorstellt?  Kennt Ihr das Urbild, von dem es nur ein
blasser Schatten ist?  Doch wer in Venedig kennte es nicht?  Sagt mir
nichts von diesem Weibe.  Ich weiss alles, was man von ihr sagt, und
glaube alles, und dennoch versichere ich Euch in allem Ernst, dass Ihr
selbst, wenn Ihr vor ihr staendet, an nichts von alle dem denken,
sondern Gott danken wuerdet, wenn Ihr Eure fuenf Sinne so leidlich
beisammen behieltet.

Ist dieses Gemaelde Euer Eigentum? fragte Andrea nach einer Pause.

Nein; es hat einem Gluecklicheren gehoert, einem schoenen jungen
Venezianer, der, wie sie mir selbst gestand, ihr Abgott gewesen.  Der
Unvorsichtige liess sich einfallen, mir seine Freundschaft anzutragen.
Er buesst dieses Verbrechen in der Verbannung, und meine Strafe ist nun,
dass er mir dieses Bild vermacht hat, und dass ich die Augen des
Originals um ihn habe weinen sehen.

Er stand, waehrend er dies sagte, vor dem Bilde und betrachtete es mit
einem schwaermerisch-traurigen Blick.  Andrea beobachtete ihn mit der
tiefsten Teilnahme.  Er war nicht schoen von Gesicht, nur anziehend
durch die Mischung von jugendlicher Sanftheit der Formen und
maennlichem Ernst und Feuer seines Mienenspiels.  Auch in den
Bewegungen der hohen Gestalt offenbarte sich Adel und Energie.
Unwillkuerlich entfuhr Andrea der Ausruf: Dass Ihr, auch Ihr dieses Weib
lieben koennt, das Euer so wenig wert ist!

Lieben? erwiderte der Deutsche mit einem seltsam duesteren Ton.  Wer
sagt Euch, dass ich sie liebe, wie ich einst in Deutschland geliebt
habe und wie es allein den Namen verdient?  Sagt, dass ich von ihr
besessen bin, dass ich mit Knirschen und Stoehnen ihre Fesseln trage,
und nehmt mein Gestaendnis hin, dass ich mich dieser Schwaeche schaeme und
doch in ihr schwelge.  Ich habe es nie vorher gewusst, wie alle
irdische Wonne nichtig ist gegen das Gefuehl, sich den Nacken von einem
selbstgewaehlten Joch wund druecken zu lassen und den gesamten
Mannesstolz um ein Laecheln solcher Augen in den Staub zu werfen.

Sein Gesicht hatte sich geroetet; er bemerkte jetzt erst, dass Andrea
laengst von dem Bilde wegsah und ihm tief bekuemmert zuhoerte.

Ich langweile Euch, sagte Rosenberg.  Sprechen wir von etwas anderem.
Wie ist es Euch indes ergangen?  Warum habt Ihr Brescia verlassen?

Ihr habt mir von Eurer Mutter noch nichts erzaehlt, lenkte Andrea ein.
Welch eine Frau!  Der Fremdeste fuehlt das Verlangen, sie wie eine
Mutter zu verehren.

Redet weiter, sagte der andere.  Vielleicht befreien mich Eure Worte
von dem boesen Zauber, dem ich hier verfallen bin.  Nicht, dass Ihr mir
etwas Neues sagtet.  Aber es von Euch zu hoeren, welch eine Mutter sie
ist, und welch ein undankbares Kind sie an mir grossgezogen hat, bringt
mich vielleicht zu meiner Pflicht zurueck.  Werdet Ihr es glauben, dass
ich schon den dritten Brief von ihr habe, in welchem sie mich
beschwoert, Venedig zu verlassen und zu ihr nach Wien zu kommen?  Sie
traeumt, dass mir hier Unheil bevorstehe.  Das groesste, dem ich verfallen
bin, ahnt sie nicht; und doch haelt mich sonst nichts hier fest, als
ein Weib, das ich um alles in der Welt nicht in ihre reine Naehe zu
bringen wagte.--Aber nein, fuhr er fort, damit ich mir nicht selbst zu
viel tue: Es waere in der Tat schwer zu machen, dass ich in diesem
Augenblick mir Urlaub auswirkte.  Mein Chef, der Graf, hat sich
eingeredet, dass ich ihm unentbehrlich sei, und gerade jetzt gibt es
mancherlei zu tun, was ihm selber laestig waere.  Es ist Euch nicht
unbekannt, dass wir hier unliebe Gaeste sind.  Man will die Augen nicht
oeffnen nach der Seite hin, von der eine wirkliche Gefahr drohen koennte,
und haetschelt das Vorurteil, als haette die Macht, die wir vertreten,
die Hand im Spiele bei allem Feindseligen, was in Venedig geschieht.
Ist man doch so weit gegangen, uns fuer die Ermordung Veniers
verantwortlich zu machen, eine Tat, die ich von Grund meines Herzens
ebenso verabscheue, wie ich ihre Anstifter fuer kurzsichtige Politiker
halte.--Denn sagt selbst, werter Freund, fuhr er mit rueckhaltlosem
Eifer fort, vielleicht nicht ohne die Absicht, einen Fuersprecher mehr
in Venedig zu gewinnen, sagt selbst, ob die geringste Aussicht ist,
das Ziel, den Sturz des Tribunals, auf diesem verbrecherischen Wege zu
erreichen?  Setzen wir die moralische Seite fuer einen Moment aus den
Augen: Ist es irgend denkbar, dass ein so weit verzweigter Anschlag
hier, in Venedig, so lange geheim bleibt wie er muesste, wenn der Zweck
der Einschuechterung erreicht werden sollte?

Es ist undenkbar, erwiderte Andrea gelassen.  Was drei Venezianer
wissen, weiss der Rat der Zehn.  Umso wunderbarer, dass er diesmal so
schlecht bedient wird.

Und nun setzt den Fall, es gelaenge den Verschworenen nach Wunsch, Mord
auf Mord, worauf es ja abgesehen scheint, erreichte die Inquisitoren
trotz des Geheimnisses, das sie umgibt, und endlich faende sich niemand,
der sein Leben an eine so gefaehrliche Wuerde wagte--was waere damit
erreicht?  Eine Aristokratie von so ungeheuerlicher Organisation, wie
die venezianische, bedarf, um zu bestehen, um sich gegen die drohenden
Wogen des Volkswillens zu sichern, des festen Dammes einer
immerwaehrenden Diktatur, die in sanfteren oder haerteren Formen immer
wieder aufgerichtet werden muesste.  Denn wo sind die Elemente, aus
denen eine echte Republik mit freien Institutionen sich bilden koennte?
Ihr habt eine herrschende Kaste und eine beherrschte, Souveraene zu
Hunderten und Poebel zu Tausenden.  Wo sind die Buerger, ohne die ein
freies Stadtwesen ein Unding ist?  Eure Nobili haben dafuer gesorgt,
dass der geringe Mann nie zum Buergersinn, zum Gefuehl der
Verantwortlichkeit und des wahren bewussten Opfers fuer grosse Zwecke
herangereift ist.  Sie haben den Plebejern nie erlaubt, sich um
Staatsinteressen zu bekuemmern.  Aber weil das Regiment von achthundert
Tyrannen zu schwerfaellig, zu uneinig und schwatzhaft ist, um eine
maechtige Wirkung nach aussen oder innen zu ueben, knechteten diese
Herren sich lieber selbst und beugten sich unter das Joch eines
unverantwortlichen Triumvirats, das wenigstens aus ihrer Mitte
hervorgegangen war.  Sie zogen es vor, ihre eigenen Mitglieder ohne
Gesetz und Recht diesem dreikoepfigen Goetzen zum Opfer fallen zu sehen,
als unter dem Schutz von Gesetzen und Rechten zu leben, die sie mit
dem Volk gleichstellen wuerden.

Ihr sagt diese Sachen, wie sie sind, warf Andrea ein.  Aber muessen sie
so bleiben?

Bleiben--oder sich verschlimmern.  Denn seht, Bester, wie furchtbar
sich die Schneide ihrer Waffe gegen sie selbst gekehrt hat.  Solange
die Republik eine Aufgabe hatte unter den Voelkern Europas, solange war
der Druck dieser stehenden Diktatur im Innern durch die Erfolge nach
aussen aufgewogen.  Niemals waere Venedig ohne dieses Zusammenfassen all
seiner Kraefte in der Hand unerbittlicher Tyrannen zu der Bluete
politischer Macht und unermesslichen Reichtums gediehen, wie wir sie
bis ins vorige Jahrhundert noch im Wachsen finden.  Sobald die Zwecke
wegfielen, die so gewaltsame Mittel allein rechtfertigen konnten,
blieb die nackte Tyrannei in all ihrer Unfoermlichkeit uebrig und begann,
um nicht muessig zu gehen und sich selbst fuer ueberlebt zu halten, nach
innen zu wueten.  Eine Diktatur im Frieden, mag sie von einem oder
dreien ausgeuebt werden, ist immer eine Lebensgefahr fuer jeden grossen
oder kleinen Staat.  Hier aber ist die Krankheit zu alt geworden, um
noch Heilung zu finden.  Die Keime des wahren Buergertums, aus denen
jetzt fuer die Republik ein neues Leben erwachsen muesste, sind verfault,
durch ein jahrhundertelanges Schreckenssystem, durch das Netz der
ausgesuchtesten Spionenkuenste ist alles Vertrauen, alle Geradheit,
Sicherheit und Freiheitsliebe erstickt, und das Gebaeude, das so
kuenstlich und dauerhaft aufgefuehrt scheint, wuerde zusammenbrechen,
sobald der Kitt der Furcht aus den Fugen verschwaende.

Eure Gruende moegen gut sein, erwiderte Andrea nach einer Pause, aber es
sind Gruende eines Fremden, den es nichts kostet, diese Republik fuer
ausgelebt und dem Untergang verfallen zu erklaeren.  Einen Venezianer
moechtet ihr schwerlich ueberzeugen, dass die Krankheit seiner alten
Mutterstadt nicht wenigstens den letzten Versuch einer Heilung wert
sei.

Ihr aber seid kein Venezianer.

Ihr habt recht, ich bin nur aus Brescia, und meine Stadt hat schwer
unter Venedigs Geissel geblutet.  Dennoch kann ich mich eines tiefen
Mitgefuehls mit diesen verzweifelten Maennern, die das fressende
Geschwuer der geheimen Schreckensherrschaft mit dem Messer
auszuschneiden versuchen, nicht ganz erwehren.  Ob sie ihr Ziel
erreichen, steht in den Sternen geschrieben.  Meine Augen sind schwach,
ich verzichte drauf, diese Schrift zu lesen.

Beide Maenner schwiegen und sahen eine Weile durch das Fenster auf den
Kanal.  Ihre Sessel standen dicht nebeneinander.  Die Sonne brannte
herein, ohne dass sie der laestigen Glut auswichen.

Ihr seht, begann endlich laechelnd der Juengere, dass ich fuer einen
Diplomaten, und einen, der in Venedig sich die Sporen verdient, noch
viel zu wenig Vorsicht gelernt habe.  Wir haben uns nur einmal gesehen,
und heute sage ich Euch ohne Umschweife, was ich von den hiesigen
Dingen halte.  Aber freilich traue ich mir hinlaengliche
Menschenkenntnis zu, um zu wissen, dass ein Geist wie der Eure sich
nicht in den Sold dieser Signoria begeben kann.

Andrea reichte ihm stumm die Hand.  In demselben Augenblick wandte er
das Gesicht und sah wenige Schritte hinter ihnen in unterwuerfiger
Haltung seinen Amtsgenossen, Samuele, mitten im Zimmer stehen.  Er
hatte die Tuer leise geoeffnet und war auf den Teppichen des Zimmers
unter vielen Verbeugungen ungehoert herangetreten.  Euer Gnaden, sagte
er jetzt zu Rosenberg gewandt, indem er sich gegen Andrea fremd
stellte, ich bitte zu verzeihen, dass ich bin eingetreten unangemeldet.
Der Herr Kammerdiener war nicht im Vorzimmer.  Ich bringe die
bestellten Juwelen; Sachen, Euer Gnaden, wie sie die schoenste Esther
haette tragen koennen.

Er holte aus seinen Taschen Schachteln und Kaestchen hervor und
breitete seine Waren sorgfaeltig auf dem Tisch aus, wobei er sichtlich
den juedischen Haendler, den er sonst in seinem Wesen nach Kraeften
verleugnete, hervorzukehren suchte.  Waehrend der Deutsche die
Schmucksachen musterte, warf Samuele einen Blick des Einverstaendnisses
nach Andrea hinueber, der ihm den Ruecken kehrte und an das Fenster trat.
Er begriff, was der Besuch des Juden zu dieser Stunde bezweckte.
Der Spion sollte den Spion im Auge haben, der alte Fuchs den Neuling
bei seinem Probestueck ueberwachen.

Indessen hatte Rosenberg eine Halskette mit einem Rubinschloss
ausgewaehlt und bezahlte den Preis, den der Jude forderte, ohne zu
handeln.  Er warf ihm die Goldstuecke hin, nickte ihm, ohne weiter auf
sein Geschwaetz zu antworten, seine Entlassung zu und trat wieder ans
Fenster.  Ich sehe es an Eurer Miene, sagte er, dass Ihr mich
bemitleidet und fuer einen Wahnsinnigen haltet.  In der Tat, ich
handelte klueger, wenn ich dieses blitzende Geschmeide in den Kanal
wuerfe, statt es um Leonorens weissen Nacken zu legen.  Aber was hilft
mir alle Klugheit gegen diesen Daemon?

Ich bin ueberzeugt, antwortete Andrea, dass Eure Entzauberung nicht
lange auf sich warten lassen wird.  Aber eine andere Warnung bin ich
Euch schuldig.  Kennt Ihr den Juden naeher, der uns eben verliess?

Ich kenne ihn.  Er ist einer von den Spionen, die der Rat der Zehn in
unserem Hause besoldet.  Er isst sein Brot mit Suenden.  Denn unser
ganzes Geheimnis ist, dass wir ehrlich sind.  Und weil sie dies fuer
ganz unmoeglich halten, gelten wir ihnen fuer die Gefaehrlichsten und
Verstecktesten.  Nur um Euretwillen ist es mir unlieb, dass der
Schleicher gerade jetzt hier eintrat.  Er hat gesehen, dass Ihr mir die
Hand gabt.  Ich buerge Euch dafuer, dass Ihr, ehe eine Stunde vergeht, im
schwarzen Buch des Tribunals stehen werdet.

Andrea laechelte bitter.  Ich fuerchte sie nicht, mein Freund, sagte er.
Ich bin ein friedfertiger Mensch und mein Gewissen ist ruhig.-Vier
Tage waren nach jenem Gespraech vergangen.  Andrea hatte sein gewohntes
Leben fortgesetzt, sich regelmaessig morgens bei seinem Notar
eingefunden und am Abend das Haus gehuetet, obwohl ihm jetzt, da er zu
der hohen Polizei in ein nahes Verhaeltnis getreten war, an dem guten
Leumund in der Strasse della Cortesia nicht mehr viel gelegen sein
konnte.

Am Samstag abends erbat er sich den Hausschluessel von Frau Giovanna.
Sie lobte ihn, dass er eine Ausnahme von seiner Regel mache.  Es sei
heute auch der Muehe wert; die Totenfeier fuer den erlauchten Herrn
Venier in San Rocco mitanzusehen, wuerde sie selbst reizen koennen.
Aber sie scheue das Gedraenge, und dann--er wisse wohl, weshalb dieser
Fall ihr ein besonderes Grauen einfloesse.

Auch er gehe dem naechtlichen Gewuehl lieber aus dem Wege, sagte Andrea.
Es beklemme ihm die Brust.  Er wolle eine Gondel nehmen und nach dem
Lido hinausfahren.

So verliess er die Alte und schlug die Richtung ein, die San Rocco
entgegengesetzt war.  Es war schon acht Uhr, ein feiner Regen truebte
die Luft, hielt aber die Menschen nicht ab, der Kirche drueben ueber dem
Kanal zuzustroemen, wo die Exequien fuer den ermordeten Staatsinquisitor
um diese Stunde abgehalten werden sollten.  Dunkle Gestalten, teils in
Masken, teils das Gesicht durch den Hutrand gegen den prickelnden
Regen schuetzend, eilten an ihm vorbei nach den Plaetzen der Ueberfahrt,
oder nach der Rialtobruecke, und ein dumpfes Glockengetoen summte durch
die Luft.  In einer Seitengasse stand Andrea still, zog eine Maske aus
seinem Rock und band sie sich vor.  Dann ging er an den naechsten Kanal,
sprang in eine Gondel und rief: Nach San Rocco!

Die stattliche alte Kirche war schon von unzaehligen Kerzen taghell
erleuchtet und eine ungeheure Volksmenge umwogte den leeren Katafalk,
der dunkel mitten im Schiff aufragte ohne Blumen und Kraenze.  Nur
ein grosses silbernes Kreuz stand zu Haeupten, und die schwarze
Decke trug zu beiden Seiten das Wappen des Hauses Venier.  Auf
schwarzausgeschlagenen Sitzen, die durch die ganze Tiefe des Chores
amphitheatralisch hinaufstiegen, hatte der Adel Venedigs Platz
genommen, in einer Vollzaehligkeit, wie sie selten auch bei wichtigen
Sitzungen des Grossen Rates zustande kam.  Niemand wagte es, zu fehlen,
denn jedem lag daran, dass an der Aufrichtigkeit seiner Trauer um den
Toten nicht der leiseste Zweifel entstaende.  Auf einer besonderen
Tribuene sassen die fremden Gesandten.  Auch ihre Reihe war vollzaehlig.

Aus der Hoehe herab bliesen die Posaunen die feierliche Introduktion
eines Requiems, und ein vollstimmiger Chor, von der Orgel begleitet,
stimmte den Klagegesang an, der erschuetternd durch die Kirche wallte
und draussen auf dem Platz und weit in die benachbarten Strassen hinein
von dem zustroemenden Volk vernommen wurde.  Der feine Regen, der noch
immer anhielt, die Dunkelheit der Nacht, aus der schon fern die hellen
Steinrosen der Kirchenfenster wundersam hervorglommen, das verstohlene
Schwirren und Summen der Tausende verbreitete ein banges Grausen rings
um die Kirche, dessen nur wenige sich erwehren mochten.  Je naeher am
Eingang in den erhabenen Raum, der alles umschloss, was in Venedig gross
und maechtig war, desto andaechtiger verstummten alle Lippen.  Aus den
schwarzen Masken, die nach alter Gewohnheit bei Trauer--wie bei
Freudenfesten zahlreich unter der Menge erschienen, sahen nicht wenige
bange Blicke in das helle Portal hinein nach dem Katafalk, der an das
Ende der Dinge und die Hinfaelligkeit irdischer Macht noch
vernehmlicher mahnte als die Worte des Gesanges.

In einer Seitenstrasse, die damals durch dunkle Arkaden nach dem Platz
von San Rocco muendete, gingen zwei Maenner hastig im Gespraech
miteinander.  Sie sahen es nicht, dass im Dunkel der Haeuser ein dritter
ihnen auf dem Fusse folgte, in Mantel und Maske sorgfaeltig versteckt,
der sich bald naeherte, bald zurueckblickte und ihnen wieder einen
Vorsprung liess.  Jene anderen trugen die Maske nicht.  Der eine war
ein graubaertiger Herr mit vornehmem Anstand, sein Begleiter schien
juenger und geringeren Standes.  Er horchte aufmerksam auf jedes Wort
des Alten und warf nur zuweilen eine bescheidene Bemerkung hin.

Jetzt kamen sie an eine Stelle, wo aus einem erleuchteten Hause ein
heller Schein ueber die Gasse fiel.  Unversehens hatte die Maske sie
ueberholt und spaehte, als sie jetzt dicht an ihr voruebergingen, hinter
dem Pfeiler hervor scharf in die beiden Gesichter.  Die Zuege des
Sekretaers der Staatsinquisitoren tauchten deutlich fuer einen
Augenblick aus der Finsternis auf.  Die Stimme des Alten war ebenfalls
im Gemach des Geheimen Tribunals laut geworden.  Sie hatte Andrea
Delfin ins Gesicht gesagt, dass er ein Candiano sei.

Geht nun zurueck, schloss der Alte das Gespraech, und besorgt die Sache
ohne Aufschub.  Der Grosskapitaen ist bei San Rocco beschaeftigt, wie Ihr
wisst: aber eine kleine Abteilung seiner Leute genuegt, um beide zu
verhaften.  Ihr werdet ihnen einschaerfen, dass es ohne Laerm abgehen muss.
Das erste Verhoer habt Ihr sofort anzustellen, denn vor Mitternacht
bin ich schwerlich zurueck.  Ist etwas Dringendes zu melden, so findet
Ihr mich, nachdem die Feier vorueber ist, bei meinem Schwager.

Sie trennten sich und der Alte schritt durch den einsamen Pfeilergang
dem Platz von San Rocco zu.  Eben verstummte die Musik in der Kirche,
und aller Augen richteten sich auf die Kanzel, die ein schneeweisser
Greis, der paepstliche Nuntius, auf zwei juengere Geistliche gestuetzt,
muehsam bestieg, um zu dem versammelten Adel und Volk Venedigs zu reden.
Kein Laut regte sich mehr; die schwache Stimme des Greises begann,
weit vernehmlich, das Gebet, dass der Herr in Gnaden herabsehen und aus
dem Schatz seiner ewigen Weisheit und Barmherzigkeit den bekuemmerten
Geistern Trost und Erleuchtung spenden moege, das Dunkel erhellen,
welches Schuld und Arglist dem Auge des irdischen Gerichts entziehe,
und die Werke der Finsternis zu Schanden machen wolle.

Das Amen war kaum verhallt, so erhob sich von dem Portal her ein
murmelndes Geraeusch und pflanzte sich blitzschnell durch das Schiff
der Kirche fort und lief bis zu den Sitzen der Nobili hinan, so dass im
Nu die ungeheure Versammlung wie ein aufgewuehlter See schwankte und
brandete.  Alle spaehten im ersten Moment ratlos nach der Schwelle hin,
ueber welche das Entsetzen eingedrungen war.  Man sah jetzt durch das
Hauptportal Fackeln in Hast ueber den dunkeln Platz irren, und waehrend
alles atemlos hinaushorchte, erscholl ploetzlich von vielen Stimmen der
Ruf in die Kirche hinein: Moerder!  Moerder!  Rette sich, wer kann!

Ein beispielloser Aufruhr, eine Verwirrung, wie wenn dem Gewoelbe der
Kirche jaehlings der Einsturz drohe, folgte auf diesen Ruf.  Volk und
Patrizier, Geistliche und Laien, die Saenger oben vom Chor, die Waechter
des Katafalks, Maenner und Frauen draengten sich blindlings den
Ausgaengen zu, und nur der Greis auf der Kanzel droben sah mit
unerschuetterlicher Wuerde auf das angstvolle Gewimmel herab und verliess
seinen Sitz erst, als nur noch das schwarze Geruest inmitten der leeren
Kirche ihn an das Wort mahnte, das ihm so ploetzlich abgeschnitten
worden war.

Draussen aber waelzte sich die entsetzte Menge nach einem Punkt, wo
einige Fackeln muehsam mit Wind und Regen kaempften.  Die Sbirren, die
unter der Fuehrung des Grosskapitaens beim ersten Aufzucken des
Ereignisses an jene Stelle geeilt waren, hatten einen regungslosen
Koerper im Dunkel der Seitengasse gefunden, dem noch immer das Blut aus
der Seite stroemte.  Als die Fackeln herbeikamen, sah man einen Dolch
mit staehlernem Kreuzgriff in der Wunde und las die eingegrabenen Worte:
"Tod allen Staatsinquisitoren!", die durch die entgeisterte Menge
halblaut von Mund zu Munde gingen.

Der erste Stoss eines Erdbebens, obwohl die Mahnung furchtbar ist, dass
man auf vulkanischem Boden stehe, erschuettert die Gemueter noch nicht
in den Tiefen.  In den Schrecken mischt sich zu lebhaft Ueberraschung
und Befremden, ja, wo die Wirkungen nicht allzu fuehlbar bleiben, sind
die Menschen, die rasch wieder ins Gleichgewicht zurueckstreben, gern
geneigt, um ihrer Ruhe willen lieber an eine Sinnestaeuschung zu
glauben.  Erst die Wiederholung des Verderblichen, Unabwendbaren und
Erbarmungslosen widerlegt jeden Glauben an einen Irrtum, jede Hoffnung,
dass nur zufaellige Umstaende das Ereignis herbeigefuehrt haben moechten.
Die Wiederkehr der Gefahr verewigt die Furcht und deutet auf eine
unabsehliche Reihe von Schrecknissen hinaus, gegen die weder Mut noch
Feigheit den geringsten Schutz gewaehren koennen.

Eine aehnliche Wirkung uebte in Venedig die Kunde von dem zweiten
moerderischen Anfall gegen einen Staatsinquisitor aus.  Denn dass der
Verwundete nichts Geringeres war, hatten die Eingeweihten nicht zu
verheimlichen vermocht.  Niemand konnte sich's verhehlen, dass die
Kuehnheit, mit der dieser zweite Schlag gefuehrt worden war, durch das
Gelingen der Tat nur neu angespornt und zum Weiterschreiten auf der
Bahn der Gewalt ermuntert werden musste.  Zwar hatte dieses Mal der
Dolch, durch ein seidenes Unterkleid abgelenkt, das Opfer nicht
sogleich toedlich getroffen.  Aber die Wunde gefaehrdete dennoch das
Leben und verursachte jedenfalls einen Stillstand in der Taetigkeit des
Geheimen Tribunals, das ohne Einstimmigkeit seiner drei Mitglieder
keinen Spruch tun durfte.  Seine Herrschaft war also fuer den
Augenblick gelaehmt, und, was wichtiger war, das undurchdrungene
Geheimnis, in das sich die feindliche Macht huellte, zerstoerte den
Glauben an die Allwissenheit und Allmacht des Triumvirats und musste
zuletzt das Selbstvertrauen und die ruecksichtslose Energie seiner
Mitglieder untergraben.

Denn welche Massregeln der Vorsicht blieben noch uebrig, und welche
Mittel geheimer Nachforschung waren noch unerschoepft?  Hatte man nicht
ueber die Neuwahl des dritten Inquisitors im Rate der Zehn sich
gegenseitig das tiefste Stillschweigen mit schwerem Eide angelobt?
Und dennoch war wenige Tage nachher der Schlag so sicher, so wie vom
Himmel herab gerade auf den Neugewaehlten gefallen.  Mit argwoehnischen
Blicken sah jeder den anderen an.  Der Gedanke draengte sich auf, dass
im Schoss der Machthaber selbst der Verrat niste, dass die Tyrannen
selbstmoerderisch Hand an ihre Herrschaft gelegt haetten.  Man
verhaftete den Sekretaer der Inquisition, der mit dem Verwundeten die
letzten Worte kurz vor dem Ueberfall gesprochen hatte.  Er wurde
peinlich befragt und mit grausamem Tode bedroht.  Auch das war
freilich erfolglos.

Und was hatte die Vermehrung der geheimen Polizei, die massenhafte
Anwerbung neuer Spione unter den Dienern der Nobili und der fremden
Gesandten, in den Gasthoefen, im Arsenal, selbst in den Kasernen und
Kloestern fuer einen Gewinn gebracht?  Halb Venedig war dafuer besoldet,
dass es die andere Haelfte ueberwachte.  Eine ansehnliche Summe sollte
die geringste Nachricht, die auf die Spur der Verschwoerung half,
belohnen.  Man verdreifachte sie jetzt.  Aber man versprach sich, da
man die Verschwoerung bei dem Adel suchte, wenig von einer Massregel,
die nur auf das aermere Volk berechnet war.  Man tat ueberhaupt eine
Menge Dinge, nur um den Schein zu retten, als sei man nicht muessig,
obwohl was man tat muessig war.  Es erschienen strenge Verordnungen ueber
das Schliessen der Gasthaeuser und Schenken mit dem Eintritt der
Dunkelheit, das Tragen von Masken und Waffen jeder Art wurde bei
schwerer Strafe verpoent, die ganze Nacht hallte der Schritt der Runden
durch die Gassen und hoerte man die Gondeln anrufen, die auf den
Kanaelen an den Wachtposten vorueberfuhren.  Niemand erhielt einen Pass,
der Venedig verlassen wollte, und am Eingang des Hafens lag ein grosses
Wachtschiff, das jedes Fahrzeug anhielt und selbst von den Beamten der
Republik die Parole verlangte, ehe sie passieren durften.

Weit ueber die Terraferma hin verbreitete sich das Geruecht von diesen
unheimlichen Zustaenden, wie gewoehnlich mit der Entfernung wachsend.
Wer eine Reise nach der Mutterstadt vor hatte, schob sie auf.  Wer
sich in eine Handelsverbindung mit einem Venezianer Hause hatte
einlassen wollen, zog es vor, den Ausgang dieser Wirren abzuwarten,
die den Bau der Republik in ihren Grundfesten umzuwuehlen drohte.  Der
Rueckschlag zeigte sich bald in der Veroedung der Stadt, wo alles zu
stocken schien.  Die Nobili verliessen nur im dringenden Notfall ihre
Palaeste, in denen sie sich, um nicht unwissend an einen der
Verschworenen zu streifen, gegen jeden Besuch absperrten.  Niemand
wusste genau, was draussen vorging, und die abenteuerlichsten Geruechte
von Verhaftungen, Folter und verhaengten Strafen drangen zu den
verschlossenen Tueren ins Innere der bangen Familien.  Auch das
geringere Volk, obwohl es klar fuehlte, dass es nicht in erster Linie
unter diesen Zustaenden litt, und es schadenfroh mit ansah, wie die
Vornehmen in panischem Schrecken sich untereinander scheel anblickten,
konnte sich doch auf die Laenge einer beklommenen Stimmung nicht
erwehren.  Es war immerhin laestig, Karten und Wein mit dem Einbruch
der Nacht im Stich zu lassen, von einer jeden Wache, der es einfiel,
nach verborgenen Waffen durchsucht zu werden, und bei dem besten
Gewissen von der Welt keinen Augenblick vor der Tuecke falscher
Denunzianten sicher zu sein.

Unter den wenigen, auf deren Leben und Treiben die Schwuele, die ueber
den Gemuetern lag, scheinbar keinen Einfluss uebte, befand sich auch
Andrea Delfin.  Er war am Morgen nach der Tat gleich dem anderen Tross
der geheimen Spaeher von dem Nachfolger jenes ungluecklichen Sekretaers,
der ihn in Sold genommen hatte, ueber seine Beobachtungen um die Stunde
der Tat befragt worden und hatte das Maerchen von einer Fahrt nach dem
Lido aufgetischt, bei der er die Absicht gehabt haette, die Stimmung
unter den Fischern auszukundschaften.  Was er aus dem Hotel des
oesterreichischen Gesandten und dem Palast der Graefin mitzuteilen
wusste--unverfaengliche Tatsachen, die dem Tribunal laengst bekannt
waren--, zeugte wenigstens fuer seinen Eifer, sich in seine Aufgabe
hineinzuarbeiten.  Sein Freund Samuele hatte nicht versaeumt, die
auffallende Vertraulichkeit zu denunzieren, in welcher er den
Brescianer mit dem Gesandtschaftssekretaer betroffen hatte.  Ruhig
verantwortete sich Andrea, und die alte Bekanntschaft von Riva her
konnte den Absichten des Tribunals nur foerderlich sein.

So verging denn fast kein Tag, an dem er nicht, wenn er mit seiner
Arbeit fuer den Notar fertig war, seinen deutschen Freund aufsuchte,
dem das Gespraech des ernsten, von geheimem Kummer verduesterten Mannes
in seiner Abgeschiedenheit von anderem Verkehr nach und nach zum
Beduerfnis wurde.  Er hatte ein unbegrenztes Vertrauen zu Andrea gefasst,
und wenn er politische Themata ihm gegenueber vermied, geschah es mehr,
weil er bei der Verschiedenheit ihrer Nationalitaet eine Verstaendigung
zwischen ihnen nicht hoffen durfte, als aus Besorgnis, dass Andrea
seine Offenheit missbrauchen moechte.  Er erzaehlte ihm sogar mit
lachendem Munde, dass er vor ihm gewarnt worden sei als vor einem Spion
des Tribunals.  Die Sorglosigkeit, mit der er taeglich die verfemte
Schwelle des fremden Gesandten betrete, falle natuerlich auf.

Ich bin kein Nobile, erwiderte Andrea mit gelassener Miene.  Dass ich
keine diplomatischen Verbindungen hier suche, leuchtet den Zehnmaennern
ein; sie haben mich bis jetzt nicht einmal einer Warnung gewuerdigt.
Euch aber habe ich liebgewonnen und wuerde mit Schmerzen darauf
verzichten, Euch dann und wann meine unerfreuliche Gesellschaft
aufzudraengen, denn ich bin ein voellig einsamer Mensch.  Selbst meine
brave Wirtin, die mir sonst wohl ein Stuendchen mit ihren Sprichwoertern
die Zeit vertrieb, betritt mein Zimmer nicht mehr.  Sie ist krank,
krank an Venedig und den bleichen Schatten, die darin umgehen.

So verhielt es sich in der Tat.  Nach dem zweiten Attentat auf die
Staatsinquisition war Frau Giovanna einen Tag lang tiefsinnig
herumgegangen, und es hatte sich mit der sinkenden Nacht eine immer
wachsende Aufregung bei ihr eingestellt.  Sie war nun fest ueberzeugt,
dass der Geist ihres Orso der Taeter sei; denn nur ein unkoerperlicher
Schatten konnte zum zweiten Male den tausend lauernden Augen, die
Venedigs Ruhe bewachten, entgehen.  Sie legte ihre besten Kleider an
und beschloss, da sie nichts Geringeres als einen Besuch ihres
Abgeschiedenen erwartete, die ganze Nacht oben an der Treppe zu seinem
Empfang bereit zu sein.  In ruehrender Verwirrung der Begriffe hatte
sie eine Lieblingspfeife ihres Mannes auf einem gedeckten Tisch mit
drei Sesseln angerichtet, und war nicht dazu zu bewegen, selbst einen
Bissen zu geniessen.  In diesem Zustande verwachte sie den groessten Teil
der Nacht.  Erst nachdem das Laempchen auf dem Flur erloschen war,
gelang es Marietta, die Andrea zu Hilfe rief, die arme Frau wieder ins
Zimmer und zu Bett zu bringen.  Ein Fieber brach aus, nicht gefaehrlich,
aber lebhaft genug, um taeglich mehrere Stunden lang ihr das
Bewusstsein zu rauben.  Andrea sah dem allen in tiefem Mitleiden zu,
und die beweglichen Worte, die der Kranken in ihren Phantasien
entfielen, peinigten ihn sehr.  Er musste sich sagen, dass er die
Verstoerung dieser guten Seele auf dem Gewissen habe, und die traurigen
Blicke Mariettas drueckten ihn schwerer als alle blutigen Geheimnisse,
die er mit sich herumtrug.

Mit dieser Last beladen, schlenderte Andrea eines Nachmittags am
Dogenpalast vorbei und stand lange an dem schmalen Kanal, der unter
dem hohen Bogen der Seufzerbruecke dahinfliesst.  Wenn seine Entschluesse
in ihm wankend wurden und er an der Unstraeflichkeit des Richteramtes,
das er uebernommen hatte, zu zweifeln begann, fluechtete er an diese
Stelle und bestaerkte sich durch einen Blick auf die uralten Mauern,
hinter denen Tausende von Opfern einer unverantwortlichen Macht
geseufzt und geknirscht hatten, in dem Glauben an das Recht und die
Not seiner Sendung.

Die Sonne schien mit stechenden Strahlen durch die Septemberduenste,
die vom Wasser aufstiegen.  Dieser Kai, der sonst von Leben wimmelte,
war unheimlich still.  Die finsteren Blicke der Soldaten, die unter
den Arkaden des Palastes auf und ab klirrten, mochte die laute
Munterkeit der Voruebergehenden einschuechtern.  Andrea konnte deutlich
hoeren, dass aus einer Gondel, die eben an die Piazetta anfuhr, sein
Name gerufen wurde.  Er erkannte seinen Freund, den Sekretaer des
Wiener Gesandten.

Habt Ihr Zeit, rief der Juengling ihm zu, so steigt ein wenig ein und
fahrt eine Strecke mit mir.  Ich bin eilig und moechte Euch doch gern
noch einmal sprechen.

Andrea stieg in die Gondel, und der andere reichte ihm mit besonderer
Herzlichkeit die Hand.  Ich freue mich sehr, mein teurer Andrea, dass
ich Euch zufaellig hier antreffen sollte.  Ich waere ungern ohne
Abschied von Euch gegangen, und doch wagte ich nicht, Euch zu besuchen
oder nach Euch zu schicken, da es ohne Zweifel aufgefallen waere.

Ihr reist? fragte Andrea fast bestuerzt.

Ich muss wohl.  Da lest diesen Brief meiner guten Mutter, und sagt, ob
ich darauf hin noch laenger zoegern kann.

Er zog den Brief aus der Tasche und gab ihn dem Freunde.  Die alte
Dame beschwor den Sohn, wenn ihm daran liege, dass sie je wieder ein
Stunde Schlaf faende, ohne Aufenthalt zu ihr zu reisen.  Die Geruechte
aus Venedig, die Stellung, die er dort einnehme und welche ihn mehr
als andere gefaehrde, der Umstand, dass kaum der dritte seiner Briefe an
sie gelange, sie wisse nicht, durch wessen Schuld--das alles nage an
ihrer Ruhe, und ihr Arzt wolle fuer nichts stehen, wenn sie nicht durch
einen Besuch ihres Sohnes erst wieder getroestet und beruhigt worden
sei.  Es ging ein Ton grenzenloser muetterlicher Hingebung und tiefen
Kummers durch diese Zeilen, dass Andrea sie nicht ohne Bewegung lesen
konnte.

Und dennoch, sagte er, als er das Blatt zurueckgab, dennoch wuenschte
ich fast, Ihr reistet nicht gerade jetzt, obwohl ich weiss, dass Eure
Mutter die Stunden zaehlt.  Nicht darum, weil ich, wenn Ihr fort seid,
voellig verlassen sein und wie ein wandelnder Toter hier zurueckbleiben
werde, sondern weil es nicht geraten ist, jetzt aus Venedig zu gehen,
da der Verdacht Euch auf den Fersen folgen wird, Ihr ginget aus
Vorsicht.  Hat man gar keine Schwierigkeiten gemacht, Euch zu
beurlauben?

Nicht die geringsten.  Wie koennte man auch, da ich zur Gesandtschaft
gehoere?

So seid doppelt auf Eurer Hut.  Man hat schon manche Tuer in Venedig
zuvorkommend geoeffnet, weil der Schritt ueber die Schwelle in einen
Abgrund fuehrte.  Wenn Ihr mir folgtet, zeigtet Ihr Euch nicht so offen
und unverkleidet hier in der Stadt waehrend der letzten Stunden vor
Eurer Abreise.  Ihr koennt nicht wissen, was man vielleicht anstellt,
dieselbe zu verhindern.--Was soll ich aber tun? fragte der Juengling.
Ihr wisst, dass die Masken verboten sind.

So bleibt zu Hause und lasst die Wuerdentraeger dieser Republik lieber
umsonst auf Euren Abschiedsbesuch warten.--Und wann werdet Ihr reisen?

Morgen frueh um fuenf.  Ich denke einen Monat fortzubleiben und
hoffentlich meine Mutter dann beruhigt verlassen zu koennen.  Nun es
fest beschlossen ist, dass ich mich losreissen soll, bin ich fast schon
ausgesoehnt mit dieser Gewaltkur, obwohl sie mir nicht wenig ins Leben
schneidet.  Vielleicht gelingt es mir, wenn ich die Kreise meiner
Zauberin nur erst einmal durchbrochen habe, ihre Macht fuer immer
abzuschuetteln.  Aber werdet Ihr's glauben, mein Freund, dass ich vor
der Trennung zittere, wie wenn ich sie nicht ueberstehen koennte?

So ist das beste Mittel, Euch sofort von ihr zu trennen.

Ihr meint, sie vor der Reise nicht wiederzusehen?  Ihr verlangt
Unmenschliches.

Andrea ergriff seine Hand.  Mein teurer Freund, sagte er mit einer
Innigkeit, die er noch stets bemeistert hatte, ich habe kein Recht,
von Euch nur das geringste Opfer in Anspruch zu nehmen.  Das Gefuehl
herzlicher Neigung, das mich von Anfang an zu Euch hingefuehrt hat,
dankt sich selbst reichlich, und ich wage es nicht, im Namen dieser
meiner Freundschaft Euch um etwas zu bitten.  Aber bei dem Bild jener
edlen Frau, deren Liebesworte Ihr mir eben zu lesen gabt, beschwoere
ich Euch: geht nicht mehr in das Haus der Graefin.  Mehr als alles, was
ich von ihr weiss, ja, was Ihr selbst nicht in Abrede stellt, laesst Euch
meine Ahnung warnen, dass es Euer Unheil ist, wenn Ihr sie nicht in
diesen letzten Stunden meidet.  Versprecht mir's, mein Teuerster!

Er hielt ihm die Hand hin.  Aber Rosenberg schlug nicht ein.  Fordert
kein festes Versprechen, sagte er mit ernstem Kopfschuetteln, lasst es
Euch genuegen, dass ich den besten Willen habe, Eurem Rat zu folgen.
Aber wenn der Daemon staerker waere als ich und alles ueber den Haufen
stuermte, was ich ihm in den Weg legte, so haette ich den doppelten
Kummer, mir selbst und Euch untreu geworden zu sein.  Ihr aber wisst
nicht, was dieses Weib erreichen kann, wenn sie will.

Sie schwiegen hierauf und fuhren noch eine Weile nachdenklich
miteinander durch die leblose Flut, die traege, wie ein Sumpf, vor dem
Kiel ihrer Gondel zurueckwich.  In der Naehe des Rialto begehrte Andrea
auszusteigen.  Er trug dem Juengling Gruesse an die Mutter auf und zuckte
auf die Frage, ob er nach einem Monat noch in Venedig zu treffen sein
werde, finster die Achseln.  Sie hielten sich lange Hand in Hand und
schieden, als die Gondel landete, mit einer herzlichen Umarmung.  Noch
einmal sah das kluge und treuherzige Gesicht des Juenglings aus der
Luke des schwarzen Verdecks hervor und nickte dem Freunde zu, der auf
der Wassertreppe in Gedanken verloren stehen geblieben war.  Beiden
war die Trennung schmerzlicher, als sie sich erklaeren konnten.

Andrea zumal, der sich seit langem von allen Banden geloest glaubte,
mit denen der Einzelne sich an Einzelne knuepft, der ueber dem einen
furchtbaren Ziel, das er sich gesteckt, allen kleinen Lebenszwecken
abgestorben schien, wunderte sich bei sich selbst, wie weh ihm der
Gedanke tat, dass er nun mehrere Wochen sich ohne diesen Juengling
behelfen muesse.  Bald aber draengte der Wunsch sich vor, dass er ihm
hier nie mehr begegnen moechte, ehe sein Werk gelungen sei.  Er nahm
sich vor, einen Brief an die Mutter zu schreiben, und sie mit
geheimnisvollen Warnungen dergestalt zu draengen, dass sie in die
Rueckkehr ihres Sohnes nach Venedig nicht wieder willigte.  Als er
diesen Gedanken gefasst hatte, fiel eine grosse Last von ihm.  Er ging
sofort nach Hause, um sein Vorhaben auszufuehren.

Aber in seinem grauen Zimmer, wo nie ein Sonnenstrahl hindrang und die
leere Wand des Gaesschens unwirtlich durch das Eisengitter hereinsah,
ueberkam ihn, sobald er sich zum Schreiben niedersetzte, eine so
heftige Unruhe und Beklommenheit, dass er die Feder hinwarf und hin und
her lief, wie ein Raubtier in seinem Kaefig.  Er war sich voellig klar
darueber, dass diese Stimmung nicht aus der Tiefe seines Gewissens
aufstieg, dass keine Furcht, sein Geheimnis verraten und der Rache
ueberliefert zu sehen, sich in die Verstoerung seiner Seele mischte.
Erst an diesem naemlichen Morgen hatte er wieder vor dem Sekretaer des
Tribunals gestanden und sich von der voelligen Ratlosigkeit der
Gewaltherren ueberzeugt.  Der verwundete Staatsinquisitor lag noch
immer zwischen Leben und Tod.  Je laenger dieser Zustand der Schwebe
dauerte, um so mehr wurde das Dasein des Triumvirates selbst in Frage
gestellt.  Noch ein gluecklicher Schlag gegen das wankende Gebaeude, und
es lag fuer alle Zeiten in Truemmern.  Andrea zweifelte keinen
Augenblick, dass die Vorsehung, die ihm bisher die Hand gefuehrt, auch
das Letzte werde gelingen lassen.  Noch niemals war er an seiner
Sendung irre geworden.  Und wenn ihn heute die unbestimmte Ahnung
eines grossen Ungluecks ruhelos machte, so hatten seine eigenen Taten
und Plaene keinen Anteil daran.

Der Tag dunkelte schon, als er drueben an Smeraldinas Fenster ein
leises Husten hoerte, das verabredete Zeichen, dass ihn das Maedchen zu
sprechen wuensche.  Er hatte sie in der letzten Zeit ziemlich
vernachlaessigt und knuepfte heute nicht ungern wieder an, teils um
seinen eigenen Gedanken zu entrinnen, teils um durch Neuigkeiten aus
dem Palast der Graefin sich den Zugang zum Tribunal offen zu halten,
und vielleicht gar zu einem der Inquisitoren hindurchzudringen.  Rasch
trat er ans Fenster und gruesste hinueber.  Die Zofe empfing ihn mit
einer kuehlen Herablassung.

Ihr macht Euch rar, sagte sie; es scheint, Ihr habt indessen andere
Bekanntschaften gemacht, die Ihr Eurer Nachbarin vorzieht.

Er versicherte, dass seine Gefuehle fuer sie unveraendert seien.

Wenn es wahr ist, sagte sie, so will ich Euch wieder zu Gnaden
annehmen.  Es waere heute gerade eine gute Gelegenheit, einmal wieder
ungestoert miteinander zu plaudern.  Meine Graefin hat eine
Spielgesellschaft auf den Abend, ein halb Dutzend junger Herren.  Sie
gehen schwerlich vor Mitternacht, und bis dahin koennten auch wir zwei
zusammen kommen, und ich versorgte uns hinlaenglich aus der Kueche und
vom Kredenztisch.

Ist der Deutsche geladen, von dem du mir erzaehlt hast, dass die Graefin
ihn so oft bei sich sieht?

Der? wo denkt Ihr hin!  Der ist so eifersuechtig, dass er keinen Fuss
ueber die Schwelle setzt, wenn er hier Gesellschaft wittert.
Uebrigens reist er fort.  Wir graemen uns eben nicht tot darum.

Andrea atmete auf.  Ich bin um zehn Uhr hier am Fenster, sagte er;
oder soll ich ans Portal kommen?

Sie besann sich.  Tut lieber das, sagte sie.  Der Pfoertner ist ja ein
guter Bekannter von Euch, und Eure Wirtin gibt Euch wohl den Schluessel.
Oder spielt Ihr den Tugendhaften vor der kleinen Marietta?  Wisst Ihr,
dass ich auf das unbedeutende Geschoepf in allem Ernste eifersuechtig zu
werden anfing?

Auf Marietta?

Sie ist in Euch vernarrt, oder ich habe keine Augen im Kopf.  Seht sie
nur an.  Geht sie nicht wie verwandelt einher und singt nicht mehr,
waehrend man sich sonst die Ohren zuhalten musste?  Und wie manche
Stunde betreffe ich sie darueber, dass sie, waehrend Ihr fort seid, in
Euer Zimmer schleicht und Eure Sachen durchstoebert!

Sie liest in meinen Buechern; ich habe es ihr erlaubt.  Wenn sie nicht
mehr singt, so ist es, weil die Mutter krank liegt.

Ihr wollt sie nur entschuldigen, aber ich weiss genug, und wenn ich
dahinter kommen sollte, dass sie schlecht von mir gesprochen hat, um
Euch mir abspenstig zu machen, so kratze ich ihr die Augen aus, der
neidischen Hexe.

Sie schlug das Fenster heftig zu, und er konnte nicht umhin, ihren
Worten lange nachzudenken.  In frueheren Zeiten haette die Vorstellung,
dass er dem reizenden Maedchen nicht gleichgueltig sei, sein Blut zu
schnelleren Schlaegen getrieben.  Jetzt ging es ihm nur im Kopf herum,
wie er seinen Weg einzurichten habe, um die ruhige Bahn dieser
arglosen Seele nicht ferner zu kreuzen.  Nachtraeglich fielen ihm
mancherlei kleine Zuege ein, die fuer Smeraldinas Meinung sprachen.  Er
hatte sie einzeln sich verleugnet.  Ihre Summe musste er gelten lassen.
Ich muss fort von hier, sagte er bei sich selbst.  Und doch, wo bin
ich so sicher und geborgen, wie in diesem Hause?

Nachts um die bestimmte Stunde fand er sich am Portal des Palastes ein,
der mit hellen Fenstern auf den winkligen Platz hinaussah.  Die Luft
war mondlos und truebe, ein frueher Herbst kuendigte sich an, und die
wenigen Menschen, die noch auf den Strassen waren, huellten sich in ihre
kurzen Maentel.  Andrea, als er stand und wartete, dass man ihn einlasse,
dachte des Abends, da ein anderer Candiano diese Schwelle betreten
hatte, um den Tod davonzutragen.  Er schauderte in sich zusammen.
Seine Hand, die bald darauf von der oeffnenden Zofe vertraulich
ergriffen wurde, war kalt.

Sie fuehrte ihn in ihr Zimmer, aber Essen und Trinken, wozu sie ihn
noetigte, war ihm unmoeglich, obwohl sie die Tafel ihrer Herrin nicht
geschont und vom Ausgesuchtesten fuer ihren Freund beiseite gebracht
hatte.  Er entschuldigte sich mit seiner Krankheit, und sie liess es
gelten, da er sich nicht weigerte, einige Dukaten im Tarok an sie zu
verlieren.  Auch hatte er ihr wieder ein Geschenk mitgebracht, so dass
sie es verschmerzte, auch heute einen so einsilbigen und enthaltsamen
Liebhaber an ihm zu finden.  Sie ass und trank desto eifriger, trieb
allerlei Possen und nannte ihm die Namen der jungen Venezianer, die
zum Spiel bei der Graefin sich eingefunden hatten.

Da geht es anders her als bei uns, sagte sie; das Gold wird nicht
gezaehlt, sondern mit der vollen Faust auf die Karte gesetzt.  Habt Ihr
Lust, einmal einen Blick hinein zu werfen?  Ihr kennt ja die Schliche
schon.

Du meinst den Spalt in der Wand?  Aber sind sie denn nicht im Saal?

Nein, im Zimmer der Graefin.  Der Saal ist nur fuer grosse Galatage im
Karneval.

Er besann sich kurz.  Es konnte ihm nur erwuenscht sein, seine
Personenkenntnis unter dem Adel zu erweitern.  Fuehre mich hin, sagte
er.  Ich werde bald genug haben und dir nicht lange untreu werden.

Nur verliebt Euch nicht in meine Graefin, drohte sie.  Im Punkte der
Eifersucht verstehe ich keinen Spass, und leider finden manche meine
Herrin schoener als mich.

Er suchte in diesen Ton einzustimmen, und sie gingen scherzend aus dem
Zimmer.  Draussen begegneten ihnen einige Lakaien in Livree, die an dem
Begleiter des Maedchens keinen Anstoss zu nehmen schienen.  Sie trugen
silberne Schuesseln und Teller vorueber und liessen den Weg nach dem
grossen Saal frei.  Derselbe war unbeleuchtet wie das erste Mal; aber
nebenan ging es froehlicher und lauter zu, und Andrea, als er seinen
unbequemen Lauerposten oben auf der Tribuene eingenommen hatte,
erkannte das Gemach kaum wieder.  Die hohen Wandspiegel warfen sich
die Strahlen der Kerzen verhundertfacht zu, und ihre goldenen Rahmen
fingen die Streiflichter auf und schnellten den Widerschein bis an die
Decke.  Dazwischen aber funkelten die Juwelen der schoenen Leonora, und
Andrea erkannte deutlich an ihrem Hals die Kette mit dem Rubinschloss,
die sein deutscher Freund von Samuele gekauft hatte.  Der Stein lag
wie ein roter Blutfleck auf der weissen Brust.  Aber ihre Augen sahen
muede und gleichgueltig auf die Karten, und wenn sie die Gesichter der
jungen Maenner ueberflogen, war es deutlich wahrzunehmen, dass keiner von
ihnen sie fesselte.  Und doch taten die Gaeste ihr Bestes, um
liebenswuerdig zu sein.  Sie begleiteten ihre Einsaetze mit den
scherzhaftesten Reden und verloren rascher ihr Gold als ihre Laune.
Einer, der bereits alles verspielt zu haben schien, sass auf einem
Sessel zwischen zwei Wandspiegeln und sang schmachtende Barcarolen zur
Laute.  Ein anderer, der eine Weile vom Gewinnen ausruhte, zielte mit
Goldstuecken nach den Mustern des Fussteppichs und vergass, sich nach den
rollenden Zechinen wieder zu buecken.  Dazwischen gingen die Diener mit
Eis und Fruechten ab und zu, und ein Bologneserhuendchen unterhielt sich
in aller Freundschaft mit dem grossen, gruenen Papagei, der von seiner
vergoldeten Stange herab zuweilen auf gut Venezianisch drollige Flueche
in die Gesellschaft hineinrief.  Schon wollte der Lauscher oben auf
der Musikbuehne sich wieder zurueckziehen, da ihm das Bild, in das er
hinuntersah, die peinlichsten Gefuehle erregte, als ploetzlich durch die
hohe Fluegeltuer eine stattliche Figur in das Spielzimmer trat, die von
allen Anwesenden mit Befremden begruesst wurde.  Es war ein ziemlich
bejahrter Herr, der aber sein weisses Haupt noch aufrecht genug auf den
Schultern trug und auch im Gang nichts Greisenhaftes hatte.  Er
musterte mit einem raschen Blick die jungen Leute, neigte sich leicht
vor der Graefin und bat, sich nicht stoeren zu lassen.

Ihr verlangt zu viel, Ser Malapiero, erwiderte die Graefin.  Die
Ehrfurcht dieser Jugend vor den Diensten, die Ihr der Republik zu Meer
und zu Lande geleistet habt, erlaubt nicht, dass wir in Eurer Gegenwart
fortfahren, die edle Zeit so suendlich zu toeten.

Ihr seid im Irrtum, schoene Leonora, versetzte der Alte.  Habe ich doch
nur deshalb mich von allem Staatsdienst zurueckgezogen und selbst den
grossen Rat schon seit Jahren nicht mehr besucht, weil mir der Respekt
der jungen Leute laestig ward und es mich nach ungebundener, froehlicher
Gesellschaft verlangte.  Wer aber mag sich heutzutage das Herz vom
Wein oeffnen lassen, wenn einer vom Rat der Zehn oder gar ein
Staatsinquisitor mit bei Tische sitzt?  Man altert rascher im Amt, und
ich denke noch eine Weile meiner weissen Haare zu spotten und
wenigstens beim Wein jung zu sein, wenn ich auch der Schoenheit
gegenueber meine Jahre fuehle.

Ihr nehmt es wahrlich in der Artigkeit noch mit diesen jungen Herren
auf, sagte Leonora, die meinen, es gehoere nur ein zierlich
gekraeuselter blonder oder schwarzer Bart dazu, um das Recht zu haben,
jeden schoenen Frauenmund zu kuessen.  Aber ich will den Kredenztisch
hereintragen lassen, um meinem seltenen Gast Willkommen zuzutrinken.

Verzeiht, meine holde Freundin.  Ich komme nicht, um das Gastrecht in
Anspruch zu nehmen.  Nur der Wunsch trieb mich her, Euch unverzueglich
die Nachrichten von Eurem Bruder zu bringen, die durch den Kurier aus
Genua heute abend an mich gelangt sind.  Sie sind so guter Art, dass
ich nicht fuerchte, die Heiterkeit der schoenen Wirtin zu trueben, und
daher auf Verzeihung rechne, wenn ich Euch diesen edlen Herrn fuer
einige Augenblicke entfuehre.  Darf ich hier mit Euch eintreten? sagte
er, auf die Tuer zu dem dunklen Saal deutend, auf die er zugeschritten
war.

Andrea zuckte zusammen.  Er begriff, dass er nicht so rasch und
geraeuschlos seinen Platz verlassen konnte, um unbemerkt sich
davonzuschleichen.  Und schon oeffnete sich die Saaltuer, und er hoerte
das Kleid der Graefin hereinrauschen.  Schnell entschlossen legte er
sich platt auf den Boden der hohen Estrade nieder, deren Gelaender, so
niedrig es war, ihn dennoch in dieser Lage voellig deckte.  Er hoerte
den Schritt des Alten, der Leonoren folgte und die Frage, ob ein
Leuchter hereingebracht werden sollte, verneinte.

Nur zwei Worte habe ich zu sagen, rief Malapiero in das Spielzimmer
zurueck.  Niemand der jungen Herren wird Zeit haben, auf mich
eifersuechtig zu werden.

Die Tuer schloss sich hinter ihnen, und sie gingen unter der Tribuene auf
und ab.

Was fuehrt Euch her? fragte die Graefin hastig.  Bringt Ihr mir endlich
die Nachricht, dass Gritti zurueckberufen wird?

Ihr habt die Bedingung noch nicht erfuellt, Leonora.  Welches von den
Wiener Geheimnissen habt Ihr dem Tribunal mitgeteilt?

Lag es an mir?  Tat ich nicht alles, was ein Weib nur vermag, und liess
diesen eigensinnigen Deutschen im Netze zappeln, wie einen Fisch auf
dem Lande?  Aber nie kam ein Wort von Geschaeften ueber seine Lippen.
Und heute reist er ab, wie Ihr wissen werdet.  Ich bin krank vor Aerger,
dass ich soviel Zeit umsonst an ihn verschwendet habe.

Man saehe es lieber, wenn er krank waere.

Wie das?

Er will fort, man hat ihm den Weg nicht verlegen koennen.  Aber wir
sind gewiss, dass es der Republik zum groessten Schaden gereicht, wenn er
wirklich bis Wien kommt.  Die Vorwaende seines Urlaubs sind nichtig.
Der wahre Grund ist, dass er Dinge in Wien zu melden hat, die er selbst
einem geheimen Kurier nicht anzuvertrauen wagt.  Und darum liegt alles
daran, dass die Reise verhindert wird.

So verhindert sie.  Sein Gehen oder Bleiben ist mir voellig
gleichgueltig.

Ihr habt das leichteste Mittel in der Hand, Leonora, ihn hier
festzuhalten.

Das waere?

Ihr sendet ihm jetzt sogleich eine Botschaft, dass er kommen moege, um
Euch weniger grausam zu finden als bisher.  Wenn er dann, wie
unzweifelhaft ist, sich noch in dieser Nacht bei Euch einfindet, so
sorgt Ihr dafuer, dass er bald darauf erkrankt.

Sie unterbrach ihn rasch.  Ich habe einen Schwur getan, sagte sie, in
dergleichen Zumutungen nie wieder zu willigen.

Man wird Euch Eures Schwures entbinden und Euer Gewissen beruhigen,
Leonora.  Auch ist die Meinung nicht, dass das Mittel toedlich sein soll;
dies waere sogar ernstlich zu verhueten.

Tut, was Ihr wollt, sagte sie.  Aber mich lasst aus dem Spiel.

Euer letztes Wort, Graefin?

Ich hab' es gesagt.

Nun wohl, so wird man dafuer sorgen muessen, dass der Reisende unterwegs
verunglueckt.  Es ist immer umstaendlicher und verdaechtiger.

Und Gritti?

Von ihm ein andermal.  Erlaubt, dass ich Euch zu Eurer Gesellschaft
zurueckfuehre.

Die Tuer des Saales oeffnete sich und schloss sich wieder.  Andrea konnte
sich ohne Gefahr aufrichten.  Aber die Worte, die er gehoert hatte,
laehmten noch seine Sinne und Glieder.  Er hoerte undeutlich durch die
Wand das mutwillige Lachen und die Scherze der jungen Leute; die
furchtbare Naehe, in der hier Tod und Leben, Verbrechen und Leichtsinn
aneinander hinstreiften, straeubte ihm das Haar.  Als er sich muehsam
aufrichtete und die Stufen hinuntertappte, suchte seine Hand
krampfhaft nach dem Dolch, den er im Gewand versteckt immer bei sich
trug.  Seine Lippen waren blutig, so hatte er die Zaehne darin
verbissen.

Aber noch war er besonnen genug, Smeraldina wieder aufzusuchen und ihr
in gelassenen Worten zu sagen, dass die Gesellschaft ganz lustig
anzusehen sei; aber er werde nie wieder durch die Spalte schauen, da
er nur mit genauer Not der Entdeckung durch die Graefin und einen
aelteren Gast entkommen sei.  Er hoffe, dass sie es nicht gehoert haetten,
wie er bei ihrem Eintritt in den dunklen Saal durch die andere Tuer
entschluepft sei.--Darauf leerte er seine Boerse vollends und drang
darauf, sogleich von ihr zu gehen.  Am sichersten sei es, dass sie ihn
auf dem Brett durchs Fenster entlasse, um jedem Verdacht der Graefin
auszuweichen.  Sie hatte kein Arg dabei, die Bruecke war im Nu
geschlagen und er ueberschritt sie mit festem Fuss, obwohl der Entschluss
zu einer schweren Tat bereits in ihm feststand.  Doch dieses Mal galt
es nicht die grosse Sache allein, der er sich geweiht hatte.  Es galt,
einen Freund vor feindseliger Tuecke zu schuetzen, einen Sohn der Mutter
wohlbehalten in die Arme zu senden, einen schnoeden Verrat des
Gastrechtes durch schnelles Gericht zu verhueten.

Leise trat er auf den Flur seines Hauses und horchte in den daemmrigen
Gang hinaus.  Die Tuer seiner Wirtin war geschlossen; aber er hoerte
trotzdem ihre Stimme, die aus Fiebertraeumen heraus sich mit Orsos
Schatten besprach.  Er gewann die Treppe und oeffnete unten behutsam
die Pforte.  Die Strasse war leer; das ewige Laempchen leuchtete nicht
weit in die windige Nacht hinueber; aber er kannte die Wege und ging
mit eiligen Schritten durch die naechsten Quergassen ueber die schmale
Bruecke des Kanals, die auf den kleinen Platz vor Leonorens Palast
fuehrte.  Er hatte nirgends eine Gondel gesehen und musste annehmen, dass
der Alte den Weg nach seinem Hause zu Fuss zuruecklegen werde.  Er ersah
sich einen Platz, wo er vorueberkommen musste.  Ein tiefer, dunkler
Vorsprung eines Tuerpfeilers schien ihm passend zum Hinterhalt.  Hier
drueckte er sich in die Ecke und fasste das Portal des Palastes scharf
ins Auge.

Aber die Hand, die den Dolch gezueckt hielt, zitterte stark, und das
Blut schoss ihm so gewaltig zu Herzen, dass er mit hoechster Anstrengung
sich zu ermannen suchte.  Was war es, das dieses Mal sich in ihm
auflehnte gegen eine Tat, die er fuer eine heilige Pflicht, fuer das
Gebot einer hoeheren Notwendigkeit hielt?  Er kaempfte hart gegen die
dunklen Stimmen an, die ihn von seinem Posten wegzulocken schienen.
Die Schulter bohrte sich eisern in den Pfosten ein, mit der Linken
lueftete er die Stirn, auf der kalte Tropfen standen.  Halt aus! sagte
er unwillkuerlich zu sich selbst.  Vielleicht, wenn der Himmel es
gnaedig fuegt, ist es das letzte Mal.

Da fiel ihm ein, dass der alte Malapiero ohne Zweifel sich von Dienern
werde geleiten lassen, und augenblicklich begriff er die Unmoeglichkeit,
in diesem Fall den Schlag zu fuehren.  Fast war es ihm lieb, einen
Vorwand zu sehen, weshalb er heute unverrichteter Sache nach Hause
gehen muesse.  Aber indem er schon mit einem Fuss aus der Hoehlung der
Tuernische heraustrat, oeffnete sich drueben das Portal des Palastes, und
in der grauen Nacht sah er die stattliche Figur, in den Mantel gehuellt,
einsam ueber die Schwelle treten und auf ihn zukommen.  Das weisse Haar
wallte deutlich genug unter dem Hute vor, der rasche Schritt erklang
ueber den Steinplatten, und sorgfaeltig hielt sich der spaete Wanderer an
den Haeusern.  Jetzt naeherte er sich dem Hause, in dessen Schatten der
Raecher stand; als ahne er die Naehe einer Gefahr, schlug er den Mantel
vor das Gesicht und hielt die Linke fest am Griff seines Degens, den
er trotz des Waffenverbotes an der Seite trug.  Er ging an seinem
Feinde vorueber, ohne ihn zu gewahren; zehn, zwanzig Schritte weit liess
ihn jener Vorsprung gewinnen.  Schon naeherte sich der Einsame der
Bruecke.  Auf einmal hoert er einen Fusstritt hinter sich, er wendet sich
um, die Hand laesst den Mantel sinken, aber in demselben Augenblick
bricht seine hohe Gestalt zusammen; der Stahl war ihm tief ins Leben
gefahren.

Meine Mutter, meine arme Mutter! stoehnte der Ermordete.  Dann sank
sein Haupt auf das Pflaster.  Die Augen schlossen sich fuer immer.

Eine Stille von mehreren Minuten folgte auf diese Abschiedsworte.  Der
Tote lag quer ueber die Strasse ausgestreckt, mit ausgebreiteten Armen,
als wollte er das treulose Leben inbruenstig umfangen.  Der Hut war ihm
von der Stirn gefallen, unter der Verkleidung der weissen Locken
draengte sich das natuerliche braune Haar hervor, das jugendliche
Gesicht erschien wie schlafend in der falben Daemmerung der Nacht.  Und
einen Schritt von ihm entfernt an der Wand des naechsten Hauses, starr
wie eine angelehnte Bildsaeule, stand der Moerder, und seine Augen
stierten in die regungslosen Zuege des Juenglings und muehten sich in
verzweifelter Angst vergebens ab, die entsetzliche Gewissheit sich zu
verleugnen, sich einzureden, dass ein Spuk ihn verblende, dass unter
dieser jungen Larve, die ihm die Hoelle vorhalte, sich die Zuege jenes
Alten versteckten, der kurz zuvor im Saal Leonorens dem Freund Andreas
einen Hinterhalt bestellt hatte.  Hatte er nicht dieses Freundes wegen
sich geeilt, den Streich zu fuehren?  Wollte er nicht der Mutter ihren
Sohn wohlbehalten zuruecksenden?  Und was hatte der Mann, der dort am
Boden lag, von seiner armen Mutter gelallt?  Warum stand nun der
Richter und Raecher wie ein Verurteilter und vermochte kein Glied zu
regen, obwohl seine Zaehne wie in Todesangst klapperten und Frost
seinen Koerper schuettelte?

Das Blut, das ihm gegen die Augen tobte, trat zurueck und stuerzte nach
den Herzkammern.  Seine Blicke erkannten deutlich den Dolch in der
Brust des Toten.  Er las in dem trueben Zwielicht, die Worte auf dem
Heft, die er mit eigener Hand muehsam eingegraben hatte: "Tod allen
Staatsinquisitoren".  Er sprach sie unwillkuerlich laut aus, und liess
seine Augen zwischen der verhaengnisvollen Waffe und dem Gesicht des
armen Opfers hin und her gehen, sich saettigend mit dem vernichtenden
Widerspruch zwischen diesen Worten und diesen Zuegen.  In furchtbarer
Hast jagten sich die Gedanken an ihm vorbei.  Er war sich ploetzlich
ueber alles klar, was hier geschehen war und nie gesuehnt werden konnte.
Kein Wunder hatte mitgewirkt, um das Grauenvolle zur Wirklichkeit zu
machen.  Alles war so ganz natuerlich, so wahrscheinlich, ein Kind
musste es begreifen.  Ueber Tag hatte sich der Juengling von seiner
verderblichen schoenen Feindin ferngehalten.  Er wollte fort ohne
Abschied.  Er hatte es ihr sagen lassen, und sie war gleichgueltig
genug, sich fuer den naemlichen Abend Gesellschaft zu laden.  Als die
Nacht kam, widerstand er dem heftigen Zwang des Daemons nicht und ging
den gewohnten Weg. Man hatte ihm an der Pforte gesagt, dass er die
Graefin nicht allein finden wuerde.  Augenblicklich war er entschieden,
umzukehren.  Und gerade dieser Augenblick hatte genuegt, dass sein
einziger Freund sich in den Hinterhalt stellen konnte, um zum Moerder
an ihm zu werden.

Erst als Andrea das alles klar ueberlegt hatte, mit einer kalten
Hellsichtigkeit, wie sie in allen entscheidenden Stunden, wo jeder
Trost schwindet, dem Menschen nahetritt, loeste sich die Starrheit
seines Leibes.  Er stuerzte zu dem stillen Schlaefer hin, sank knieend
auf das Pflaster und sah ihm dicht ins Gesicht.  Ein irres Lachen, das
wie ein Roecheln klang, entfuhr ihm jetzt, als er die weissen Locken ihm
vom Haupte strich, die ihn so unselig betrogen hatten.  Es fiel ihm
ein, dass er selbst am Nachmittag den Freund gewarnt hatte, sich nicht
offen in den Strassen Venedigs zu zeigen.  Er selbst hatte die Falle
gelegt fuer sich und seinen Teuren.  Dann riss er ihm das Kleid auf und
fuehlte, ob noch ein Rest von Leben im Herzen klopfe.  Er neigte seinen
Mund dicht an die Lippen des Juenglings, ob er noch einen Hauch spueren
koennte.  Alles war still und kalt und hoffnungslos.

In diesem Moment wurde die Pforte des Palastes wieder geoeffnet, und
eine hohe Gestalt im Mantel trat heraus.  Der Lichtschein aus dem Flur
fiel auf das weisse Haar des alten Malapiero, der in sein Haus
zurueckkehrte.  Andrea sah auf; die schneidende Ironie seiner Lage trat
ihm vor die Seele.  Da ging der Mann, vor dem er Venedig, die wehrlose
Herde des Adels und Volkes, und nicht zuletzt seinen deutschen Freund
zu schuetzen dachte.  Da kam er einsam genug des Weges heran, nur in
der Maske eines Geheimnisses, das sein Feind durchdrungen hatte;
nichts hinderte, sich auf ihn zu werfen, der Dolch war zur Hand--;
aber dieser Dolch war mit unschuldigem Blut geschaendet worden, nichts
mehr unterschied den Richter und Raecher von dem, an welchem er den
Spruch vollziehen wollte, als dass hier ein tueckisch blinder Zufall den
Streich gefuehrt hatte, waehrend jene unverantwortlichen Henker ihre
Ziele sicher und unfehlbar vor Augen hatten.

Dieses alles tobte durch Andreas Geist.  Er raffte sich auf, zog den
Dolch aus der Wunde und floh, noch unbemerkt von dem greisen Triumvirn,
im Schatten hin, ueber die schmale Kanalbruecke seinem Hause zu.  Als
ihm einfiel, dass der alte Malapiero den Toten finden und seinem
unbekannten Moerder Dank wissen wuerde, dass er ihm eine Muehe gespart,
musste er die Zaehne zusammenbeissen, um nicht wild aufzuschreien.

So kam er an seine Haustuer und fand sie offen.  Als er die Treppe
hinaufsah, erblickte er oben, wo sonst die Alte sass, ihre Tochter, die
an der obersten Stufe stand und weit vorgebeugt, beide Arme auf das
Gelaende gestuetzt, hinabspaehte.  Kommt Ihr endlich! fluesterte sie ihm
entgegen.  Wo waret Ihr so spaet?  Ich hoerte Euch fortgehen und konnte
nicht schlafen.

Er erwiderte kein Wort; muehsam erstieg er die Treppe und wollte an ihr
vorbei.  Da sah sie den Dolch, den zu verbergen er durchaus keine
Sorge trug, und ploetzlich fiel sie mit einem erstickten Ausruf ihm
gerade vor die Fuesse.  Er liess sie liegen und schritt nach seinem
Zimmer.  Kein Mitleiden mit kleinem Menschenweh hatte noch Raum in
seinem Innern.  Er sah nur die Mutter vor sich, die mit Ungeduld ihren
Sohn aus der Fremde zurueckerwartete und statt dessen seinen Sarg
empfangen sollte.

Kaum aber hatte er sich in seinem Zimmer eingeschlossen, als er
Mariettas Klopfen vernahm und ihre leise Stimme, die ihn um Einlass bat.

Geh zu Bett, sagte er.  Ich habe nichts mehr mit Menschen zu teilen.
Morgen in der Fruehe melde dich im Dogenpalast.  Es sind dreitausend
Zechinen dort abzuholen.  Du kannst sagen, dass einer der Verschworenen
unschaedlich sei.  Fuerchte nicht, dass man mich lebend ergreift.  Gute
Nacht!

Sie blieb beharrlich an der Tuer.  Ich will hinein, sagte sie.  Ich
weiss, Ihr tut Euch ein Leids an, wenn Ihr allein bleibt.  Ihr denkt,
ich koennte Euch verraten, weil ich Euch habe kommen sehen mit dem
Dolch.  O, Ihr seid sicher davor, dass ich Euch Gefahr braechte.  Lasst
mich hinein, seht mir ins Gesicht und dann sagt, ob Ihr mir etwas
Arges zutraut.  Hab ich's nicht lange geahnt, dass Ihr es waeret, den
sie suchten?  Ich sah Euch im Traum mit Blut befleckt.  Aber ich hasse
Euch dennoch nicht.  Ich wusste, dass Ihr ungluecklich seid; mein Leben
koennt' ich hingeben, wenn Ihr es verlangtet.

Sie horchte an der Tuer, aber es kam keine Antwort.  Statt dessen hoerte
sie, wie er an das Fenster trat, das nach dem Kanal ging und sich dort
zu schaffen machte.  Eine toedliche Angst ueberfiel sie, sie ruettelte an
der Tuer, sie rief von neuem, sie beschwor ihn in den ruehrendsten
Worten, nichts Verzweifeltes zu unternehmen--alles umsonst.  Da es
endlich drinnen ganz still geworden war, stemmte sie sich in
furchtbarer Qual mit den Schultern heftig gegen die Tuer und suchte mit
Aufbietung aller Kraefte das Schloss zu sprengen.  Das alte Holzwerk
brach ein, nur der Rahmen hielt stand.  Das Loch, das sie gebrochen
hatte, liess ihre schlanke Gestalt so eben durchschluepfen.

Das Zimmer war leer: in allen Winkeln suchte sie ihn vergebens.  Als
sie an das offene Fenster trat, nun nicht mehr zweifelnd, dass er sich
in den Kanal gestuerzt habe, wagte sie kaum ueber das Gesims in die
Tiefe hinabzuspaehen.  Aber was sie sah, gab ihr die verlorene Hoffnung
wieder.  Ein Strick hing, an einem festen Haken unterhalb des Gesimses
angeknuepft, an der Mauer draussen herab.  Er reichte bis auf die
Wasserflaeche.  Wer sich, unten angelangt, mit den Fuessen von der Mauer
abstiess, musste sich leicht auf die Wassertreppe drueben am Palast der
Graefin und in die Gondel schwingen koennen, die dort angekettet zu sein
pflegte.  Heute war sie verschwunden, und dem einsamen Maedchen, das
vergebens die dunkle Schlucht des Kanals hinabschaute, um eine Spur
des Entflohenen zu entdecken, blieb wenigstens die troestliche
Ueberzeugung, dass, wenn er sich retten wollte, er keinen sichereren Weg
haette waehlen koennen.

Dass sie dies glauben sollte, war seine Absicht gewesen.  Er wollte das
Gemuet des unschuldigen Wesens, dem er schon zu viel Kummer gemacht
hatte, nicht mit der ganzen herben Wahrheit belasten, dass es fuer ihn
keine Rettung mehr gab, da er sich selber nicht zu entfliehen
vermochte.

Noch sah das arme Maedchen aus dem Fenster, und ihre Traenen stuerzten
bitterlich in die schwarze Flut unter ihr, als Andrea schon seine
Gondel in den grossen Kanal hinaus lenkte.  Die Palaeste zu beiden
Seiten ragten dunkel ueber den Wasserspiegel auf.  Er fuhr an dem Hause
Morosini vorbei, er sah den Palast Venier, und ein Schauder straeubte
ihm das Haar.  Hier lag wie mit einem Ring umschlossen sein Leben vor
ihm; welch ein Anfang und welch ein Ende!-Als er an der Giudecca
vorueberruderte und nun die breite Stirn des Dogenpalastes im Zwielicht
einer trueben Mondsichel vor sich liegen sah, durchzuckte ihn fluechtig
der Gedanke, dass hier die Staette sei, wo man Verbrechen richte.  Aber
fuer das seinige waren hier keine Richter zu finden; denn wer darf
richten in eigener Sache?  Und begleitete ihn nicht noch immer die
Hoffnung, dass aus seiner Freveltat dennoch Rettung und Befreiung fuer
seine Mitbuerger erbluehen koenne, dass vielleicht sogar der Mord des
Unschuldigen, den die Stimme des Volkes unfehlbar dem Tribunal
zuschreiben wuerde, das begonnene Werk vollenden und das Mass der
Gewaltherrschaft wuerde ueberfliessen machen?

Er haette diese Hoffnung selbst zerstoert, wenn er sich den Richtern
gestellt, ihre Furcht vor den unsichtbaren Feinden zerstreut, und die
Beschwerden der fremden Maechte von ihnen abgelenkt haette.

Mit starken Ruderschlaegen trieb er die Gondel gegen den Lido hin und
durchschnitt das Hafenbecken, wo die Laternen der Schiffe allein noch
wachten.  Am Eingang des Hafens lag die grosse Feluke, die seit einer
Woche auch dem kleinsten Fahrzeug auszulaufen wehrte, wenn nicht auf
den Anruf die Parole der Inquisition antwortete.  Andrea hatte gleich
den uebrigen geheimen Dienern des Tribunals heute frueh das Wort
empfangen.  Ungehindert liess man ihn ins freie Meer hinaus.

Die See war still.  Nicht mit den Wellen hatte Andrea zu kaempfen, als
er laengs dem Ufer mehrere Stunden weit hinruderte.  Aber in der
ruhigen lauen Nacht empfand er seine Qualen nur heftiger, und schlug
dann und wann wie wahnsinnig das Ruder ins Meer, um nur einen anderen
Ton zu hoeren, als die letzten Worte seines Freundes: "Meine Mutter,
meine arme Mutter."

Es war schon weit ueber Mitternacht, als er die Gondel ans Land trieb,
hinaussprang und auf ein einsames Kloster zuging, das auf einer
Landzunge stand und den armen Schiffern wohl bekannt war.  Kapuziner
hausten hier, die von den Wohltaten der Chiozzoten und dem Bettel auf
dem Festland lebten und dafuer geistlichen Trost spendeten und in
mancher Not dem Volk eine Stuetze waren.  Andrea zog die Glocke am Tor.
Bald darauf hoerte er die Stimme des Pfoertners, die fragte, wer
draussen stehe.

Ein Sterbender, antwortete Andrea.  Ruft den Bruder Pietro Maria, wenn
er im Kloster ist.

Der Pfoertner entfernte sich von der Tuer.  Indessen setzte sich Andrea
auf die Steinbank, riss ein Blatt aus seiner Brieftasche und schrieb
bei dem Schein einer Laterne, die aus der Pfoertnerzelle
hervorschimmerte, folgende Zeilen:

"An Angelo Querini.

"Ich habe den Richter gespielt und bin zum Moerder geworden.  Ich habe
mich der Gerechtigkeit angemasst, die Gott sich vorbehalten, und Gott
hat mich in meinen eigenen Frevelwahn verstrickt und mich gerechtes
Blut vergiessen lassen.  Das Opfer, das ich zu bringen dachte, ist
verworfen worden.  Die Zeit war noch nicht erfuellt, das Priestertum
der Befreiung Venedigs ist anderen Haenden vorbehalten.  Oder ist
ueberhaupt keine Rettung mehr?

"Ich gehe vor das Angesicht Gottes, des hoechsten Richters, der auf
seiner ewigen Waage meine Schuld und meine Leiden gerecht abwaegen wird.
Von Menschen habe ich nichts mehr zu erwarten; von Euch nur ein
grossmuetiges Mitgefuehl fuer meinen Irrtum und mein Unglueck.

"Candiano."

Die Pforte des Klosters oeffnete sich, und ein ehrwuerdiger Moench mit
kahlem Haupte trat zu dem Schreibenden heraus.  Andrea stand auf.
Pietro Maria, sagte er, ich danke Euch, dass Ihr kommt.  Ihr habt dem
Verbannten in Verona meinen Brief gebracht?

Der Greis nickte.

Wenn Euch am letzten Dank eines Ungluecklichen etwas gelegen ist, so
bringt auch dieses Blatt sicher in dieselben Haende.  Versprecht Ihr
mir's?

Ich verspreche es.

Es ist gut.  Gott lohne es Euch!  Lebt wohl!

Er nahm die Hand nicht an, die ihm der Moench zum Abschied reichte.
Ohne Aufenthalt stieg er wieder in die Gondel und fuhr in die offene
See hinaus.  Als der Alte, nachdem er die Zeilen ueberflogen, entsetzt
ihm nachrief und ihn beschwor, noch einmal umzukehren, antwortete er
nicht mehr.  In hoechster Bewegung sah der alte Diener der Republik den
letzten Spross eines edlen Geschlechtes auf den oeden Wellen
hinaustreiben, die sich jetzt, von einem fruehen Morgenwinde erregt,
lebhafter kraeuselten.  Er ueberlegte, ob es wohlgetan, ob es ueberhaupt
moeglich sei, den festen Willen des Sterbenden zu kreuzen.  Da erhob
sich in der fernen Gondel die dunkle Gestalt, deutlich erkennbar gegen
den grauen Horizont; der Scheidende schien noch einmal einen Blick
ueber Land und Meer zu werfen, und nach der Stadt zurueckzuspaehen, deren
Umriss auf den Nebeln der Lagunen wie auf einer Wolkeninsel schwamm.
Dann sprang er in die Tiefe.

Der Moench, der sein Ende mit ansah, faltete die Haende und betete still
und inbruenstig.  Er stieg dann selbst in einen Kahn und fuhr ins Meer
hinaus, wo die leere Gondel auf der Brandung tanzte.  Von dem
Ungluecklichen, der sie gelenkt, fand er keine Spur.


Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Andrea Delfin, von Paul Heyse.





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, ANDREA DELFIN ***

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